Was ich mir von meinen Eltern gewünscht hätte
Es fühlt sich merkwürdig an, dass ich mich im Alter von 58 Jahren von der Frage „Was hätte ich mir von meinen Eltern so sehr gewünscht?“ angezogen fühle. Birgit Elke Ising lädt in ihrer Blogparade dazu ein, diese Frage zu beantworten. Angesprochen haben mich vor allem ihre einleitenden Worte, dass es darum geht, „eigene Mangelerfahrungen zu erkennen und unsere nicht erfüllten Bedürfnisse zu benennen. … Hier gehts nicht um Eltern-Bashing! Unsere Eltern waren, wie sie waren. Sie sind, wie sie sind. Sie haben ihre eigene Geschichte, ihre eigenen Erfahrungen und eigenen Wunden.“ Ich gebe zu, in meinen jungen Jahren habe ich meine Eltern dafür gehasst, was sie mir angetan haben, für das Schweigen und die brüllende Gewalt zwischen dem Schweigen. In diesen Jahren war ich unglücklich, litt an Depressionen, galt als „Borderlinerin“. Damals habe ich Eltern-Bashing betrieben. Heute weiß ich, sie hatten ihre eigene Geschichte und es war das Beste, was ich für mich tun konnte und kann: den Fokus auf die eigenen Bedürfnisse zu lenken. Dazu gehört auch, einmal genau hinzuschauen, was ich mir eigentlich von ihnen gewünscht hätte.
Meine Familie war eine der sogenannten dysfunktionalen Familien, im Außen schien alles fein, wir zählten durchaus zur oberen Mittelschicht, mit Haus und Hühnern, Pool, Auto und ohne Geldsorgen. Meine Eltern hatten einen festen Freundeskreis und waren beliebt und anerkannt. Geldsorgen kannte ich in meiner Kindheit nicht, wir machten jedes Jahr Urlaub im Ausland – Polen, Tschechoslowakei, Rumänien, Bulgarien. Nach außen lebten wir Fülle, im Inneren war alles karg und zerklüftet. Ich habe seit 35 Jahren keinen Kontakt mehr zu meinen Eltern und trotzdem gab es da immer eine Sehnsucht. Die Sehnsucht nach Liebe, Gesehen werden, Anerkennung, Annahme. Meine Eltern haben uns Kindern viel geboten und doch wenig gegeben. Ich hätte mir gewünscht, es wäre andersherum gewesen.
Was ich mir von meinen Eltern gewünscht hätte: Liebe
Während ich das schreibe, merke ich, wie es sich in mir differenziert. Haben meine Eltern uns wirklich keine Liebe gegeben? Ich denke doch. Sie haben uns geliebt, auf ihre Art. Sie gaben uns Geldsicherheit, Geschenke, Ausflüge und Reisen. Der Rahmen, den sie gebaut haben für uns, mit Haus, in dem jedes von uns drei Kindern ein eigenes Zimmer hatte, all das war ganz sicher Ausdruck ihrer Liebe zu uns, also auch zu mir. Eine Liebe, die mit Leistung verbunden war, mit ihrer Leistung. Sie arbeiteten hart dafür und das erwarteten sie im Gegenzug auch von uns. Leistung in Form von Anpassung ohne Widerworte, funktionieren, schulischen Leistungen. Was ich mir also gewünscht hätte, war Liebe ohne Bedingungen. Liebe, die mich in meinem Sein anerkennt und annimmt. Für die ich mich nicht verbiegen, verstellen und für die ich nichts leisten muss. Eine Liebe, die sich an mir erfreut, an meinem So-Sein-wie-ich-bin.
Vor allem habe ich mir eine Liebe gewünscht, vor der ich keine Angst haben muss. Bis heute ist mein erster Impuls, wenn jemand mir seine Zuneigung bekundet „Was willst du von mir?“ Freundlichkeit und Zuwendung signalisierte in meiner Kindheit und Jugend meistens eine gefährliche Situation. Grundlos freundlich war in dieser Familie selten jemand. Heute spielt sich das innerhalb von Sekunden in mir ab und ich erinnere mich daran, heute ist nicht früher. Ich weiß, dass Menschen auch ohne Hintergedanken freundlich und zugewandt sind. Ich bin es ja auch.
Zum Glück habe ich früh erkannt, dass ich diese Liebe von meinen Eltern nicht bekomme. Gesehnt danach habe ich mich viele Jahre. Es hat viel Selbstbeelterung und viele Therapien, Liebesbeziehungen und Freundschaften gebraucht, diese Liebe spüren zu können. Diese bedingungslose Annahme. Obwohl der Schmerz, das nicht von den Eltern bekommen zu haben, nicht mehr so stark ist, er schlummert noch in mir.
Was ich mir sonst noch von meinen Eltern gewünscht hätte
Es gibt vieles, was ich mir gewünscht hätte, doch die wesentlichen Punkte waren die Folgenden:
- Schutz vor Gewalt: Vor der Gewalt, die von meinen Eltern ausging, aber auch vor der, die von Mitschüler:innen ausging.
- Gesehen werden: In meinem Bedürfnis nach Ruhe, Kreativität und in der Zartheit meiner Kinderseele, die so viel Angst vor den Eltern hatte.
- Förderung: Meine Fantasie wird nicht als Waffe gegen mich gebraucht, mit der ich klein gemacht werde.
Ich könnte die Liste endlos verlängern. Außer dem Leistungsgedanken – der mich zweimal in meinem Leben in den Burn-out abrutschen ließ – und den ich, wenn er nicht übertrieben ist, sehr schätze, fehlte mir so ziemlich alles, was ich heute, aus psychologischer Sicht als förderlich ansehen würde. Über Gefühle sprechen zu können, ohne lächerlich gemacht und herabgewürdigt zu werden. Ehrliche Gespräche über unterschiedliche Bedürfnisse, ohne dass einer recht haben muss. Dass es ok ist, einmal verunsichert zu sein und nicht gleich eine Lösung parat zu haben. Mir darüber bewusst geworden zu sein, dass ich all dies vermisst habe, hat mich zu der Person gemacht, die ich heute bin. Das war ein harter Weg, aber ich habe gelernt, ihn zu gehen.
Wofür ich meinen Eltern dankbar bin
Noch vor ein paar Jahren hätte ich auf diese Frage geantwortet „Für nüscht“. Die Frage hat mich lange beschäftigt und heute kann ich sagen: Ich bin dankbar für mein Leben. Ohne meine Eltern gäbe es mich nicht und das fände ich persönlich inzwischen sehr bedauerlich. Doch es gibt mich und heute kann ich sagen: Ich bin gern auf dieser Welt, auch wenn ich sie mir in mancher Hinsicht anders wünsche. Das alles ändert nichts daran, dass ich lebe und das wirklich gern. Inzwischen gibt es noch ein paar andere Dinge, die ich erkannt habe und für die ich dankbar bin:
- Meine Leidenschaft fürs Reisen und meine Neugier auf fremde Orte, Landschaften und Kulturen, verdanke ich der Reiselust meiner Eltern.
- Die Liebe zur Natur, zum Tiere beobachten und wandern verdanke ich der Leidenschaft meines Vaters.
- Ich weiß nicht, ob meine Mutter aus Leidenschaft las oder weil es zu ihrem Berufsstand gehörte, aber dank ihr habe ich meine Liebe zum Lesen entdeckt.
Fazit
Hätte ich mir andere Eltern gewünscht? Sicher. Aber ich hatte keine Wahl. Geprägt hat mich das Zusammenleben mit euch in den ersten 18 Jahren meines Lebens auf jeden Fall. Das größte Geschenk, welches ihr mir gemacht haben, ist mein Leben. Lange wusste ich dieses Geschenk nicht zu würdigen. Wollte es wegwerfen, wollte es nicht haben. Doch auch, wenn ihr meine Bedürfnisse nicht erfüllen konntet oder wolltet, heute bin ich für dieses Leben dankbar. Ich musste lernen, im Leben klarzukommen, auch ohne eure annehmende Liebe und Unterstützung. Ich habe es gelernt und kann heute trotz allem schreiben: Auch wenn ihr für mich nicht die wart, die ich gebraucht hätte, obwohl ihr mich verletzt und gedemütigt habt, ihr seid die, die ihr seid. Mit eigenen Sehnsüchten, unerfüllten Wünschen und nicht so feinen Lebensgeschichten.
Ich wünsche euch einen lebendigen Lebensabend voller Zuneigung füreinander und mit Menschen an eurer Seite, die ihr liebt und die euch lieben. Auch wenn ich nicht zu diesem Personenkreis gehöre und gehören will, seit versichert, ich mache das Beste aus dem Geschenk meines Lebens. Vieles, was ich bei euch vermisst habe, konnte ich mir erschaffen und in mein Leben holen. Dass mir dies gelang, dafür war es notwendig zu erkennen, was mir mit euch gefehlt hat und radikal anzuerkennen, dass ich dies von euch nicht bekommen werde. Der Bruch mit euch war notwendig für meine Heilung, aber auch dafür, dass ich nicht in der Hoffnung erstarre, von euch die Liebe zu bekommen, die ich brauche. Das klopft manchmal noch als Sehnsucht bei mir an, tut weh, doch dann erinnere ich mich: wenn ihr mir hättet geben können, was ich brauche, hätte ich es vermutlich bekommen. Jedes Mal, wenn diese Erkenntnis anklopft, nehme ich meine Sehnsucht in den Arm und tröste sie, denn es ist, was es ist.
Herz – Emoji
Liebe Birgit, Danke für deine berührenden Worte. Mit der von außen geforderten Vergebung habe ich mich lange herumgeschlagen, eine Forderung die ich weder erfüllen konnte noch wollte. Ich hatte genug damit zu tun, mir selbst zu vergeben und bin froh, dass mir dies gelungen ist. Für die Vergebung meiner Eltern fühle ich mich nicht zuständig. Spannend, damit habe ich glatt eine Idee für die Blogparade von Claudia Kielmann zum Thema „Loslassen“. Danke für die Inspiration. Liebe Grüße Sylvia
Liebe Birgit, wie schön, deine Worte zu lesen. Es berührt mich sehr, dass du meinen Artikel deinem Mann vorgelesen hast. Spontan lachen musste ich über das Wort „nachwürgt“.Weil es ja manchmal ein Würgen an der eigenen Geschichte ist. Ich danke dir für deine Blogparade, ohne die ich diesen Beitrag nicht geschrieben hätte. Liebe Grüße Sylvia
Liebe Gabi, danke für deine Worte. Ich fühle mich gesehen und das tut gut. Liebe Grüße Sylvia
Danke liebe Carolin, das zaubert doch glatt ein Lächeln auf mein Gesicht.
Liebe Sylvia,
ich bin sehr berührt und habe Tränen in den Augen, wünsche ich doch allen Kindern in einem liebevollen Umfeld aufzuwachsen. Leider waren so viele unserer Eltern (die im um die Kriegszeit geboren wurden) dazu nicht in der Lage. Mensch kann nur das geben, wozu er/sie in der Lage ist, wozu die eigenen Ressourcen reichen.
Du hast für dich erkannt, dass dein Leben lebenswert, wertvoll und liebenswert ist. Du bist inzwischen ohne Groll. So bist du.
Du hast dich entschieden einen anderen Weg zu gehen, für dich. Du hast dich selbst befreit, auch wenn eine schmerzliche Erinnerung an die Vergangenheit bleibt. Du erzeugt selber Liebe und Anerkennung zu dir und zu anderen.
Deine Geschichte zeigt mir, dass so viel mehr möglich ist. Es muss nicht immer Vergebung sein, ein Anerkennen reicht auch aus.
Es ist schön und bereichernd dich zu kennen. Herzlichen Dank dafür, Birgit
Liebe Sylvia,
oooh, was für ein wunderbarer Beitrag.
Es freut mich, dass Dich meine einleitenden Worte im Aufruf zur Blogparade angesprochen haben.
Ich gehe sehr in Resonanz mit Deiner Geschichte, die mir viele Parallelen in unserer Familie in Erinnerung gerufen hat (ich habe allerdings nie den Kontakt zu meiner Mutter abgebrochen, Papa gabs nicht …). Als ich meinem Mann Deinen Blogartikel auf dem Rückweg von Berlin im Auto vorgelesen habe, ist mir die Stimme weggebrochen und ich hatte Pippi in den Augen, so sehr hat er mich berührt.
„Nach außen lebten wir Fülle, im Inneren war alles karg und zerklüftet.“ – eine Formulierung, die es für mich genau trifft.
Ich mag Deine differenzierte Sicht auf die Dinge, das, was geboten und das, was gegeben wurde.
Was Menschen aus Liebe (oder ihrer Definition davon) tun, hat so viele Gesichter. Ebenso wie die Spuren und Folgen, die dieses Tun oder Unterlassen in uns bewirkt, wie es nachwirkt und manchmal auch nachwürgt.
Ich bewundere Dich sehr dafür, dass Du Deinen Weg und Umgang damit gefunden hast. Ich habe mich das so nicht getraut.
Alles Liebe und ein dickes Dankeschön für Deine so tiefgründige Teilnahme an meiner Blogparade! Ich bin grad WOW! Birgit ?
Liebe Sylvia,
was für ein berührender Artikel. Ich lese dich so gerne! Deine Liebe zum Leben, deine Selbstreflexion, deine Stärke, deine Tiefe, dein Mut, dich zu zeigen, all das trägt auch diesen Beitrag und macht ihn so lesenswert für mich. Wie schön, dass es dich gibt! Und wie schön, dass du das Geschenk des Lebens annehmen und so wunderbar entwickeln konntest!
Herzliche Grüße
Carolin
Liebe Sylvia,
mit Betroffenheit habe ich deine Erzählung gelesen, nicht ausmalen kann ich mir, was Schlimmes geschehen musste – über viele Jahre – damit du mit deinen Eltern brachst.
Gut so! Denn auch wenn Blut verbindet, muss die Bindung auf Respekt, Vertrauen und Liebe bauen, damit sie hält.
Das war in deinem Fall nicht so und ich lese, dass du andere feste Beziehungen in deinem Leben gefunden hast.
Du hast dich befreit, dir dein DU erkämpft und letzten Endes auch Frieden geschlossen, der den Blick zurück nicht vollends schmerzfrei ermöglicht, aber erträglich macht.
Ich bewundere deine Haltung und das kleine Danke an deine Erzeuger.
Ohne sie wärst du nicht und nicht, was du bist.
Fühl dich herzlich gegrüßt
Gabi