Die Mittagsfrau

Leben. Mittendrin, am Rand.

Der Roman -Die Mittagsfrau- von Julia Franck beginnt und endet mit der Geschichte von Peter. Einem Jungen, der allein mit seiner Mutter lebt und von der Existenz seines Vaters nur aus einem heimlich gelesenen Brief weiß. Einem Jungen, der in den Wochen nach Kriegsende seine geliebte Mutter von Soldaten vergewaltigt in der Wohnung antrifft. Einem Jungen, der sich die Schuld für das Geschehen gibt, weil er nach einem ähnlichen Vorfall vergessen hatte, ein neues Schloss für die Wohnungstür zu besorgen. Die Mutter packt Koffer und geht mit Peter zum Bahnhof. Sie fahren mit dem Zug nach Pasewalk. Dort endet die gemeinsame Reise. Die Mutter verlässt Sohn und Koffer auf diesem Bahnsteig. Jahre später besucht die Mutter ihren Sohn bei Onkel und Tante in Gelbensande. Diese Adresse hatte sie zusammen mit Peter und dem Koffer auf dem Bahnhof Pasewalk zurückgelassen. Peter war ein ungeliebter Neffe, aber eine große Hilfe auf dem Bauernhof. Vor der Mutter versteckt er sich im Stall und erst lange nachdem sie wieder abgefahren ist, zeigt er sich wieder. Grämen soll sie sich, das wünscht er sich. Noch mehr aber wünscht er, sie nie wieder zu sehen.

Auf den 389 Seiten zwischen Prolog und Epilog erzählt Julia Franck die Geschichte von Helene, Peters Mutter, die Peter nur unter ihrem falschen Namen Alice kennt. Die Geschichte beginnt mit einer Kindheit, einem Zusammenleben mit einer psychisch kranken Mutter, einem um das Wohl der Frau besorgten Vater und der engen, inzestuös anmutenden Beziehung zwischen den Schwestern Martha und Helene. An ihren Töchtern nicht interessiert, sie achtlos und mitunter gewalttätig beiseite stoßend, trauert die Mutter um ihren vor zehn Jahren verstorbenen Sohn und sammelt auf der Straße Flederwische. Sie lebt in einer Traumwelt, fern ab der Realität ihrer Töchter. Die Mutter berührte es nicht, wenn die Nachbarn auf den Bautzener Straßen die Seite wechseln, wenn sie nach so vielen Jahren Ehe in dieser Stadt noch immer die Fremde war. Nicht kirchlich getraut, nur standesamtlich. Der Vater zieht in den Krieg, kehrt verletzt wieder, stirbt. Zwischen all dem zwei Mädchen an der Schwelle zum Leben als Frau. Gegenseitig sind sie sich Vertraute, Liebende, Ratende. Martha, die Schwester entdeckt ihre Liebe zu Frauen. Die Mutter der Pflege der Haushälterin überlassend, ziehen die Mädchen dem Leben entgegen nach Berlin zu Fanny, einer Cousine ihrer Mutter. Angesteckt vom Taumel der Zwanziger Jahre, von den sich offenbarenden Möglichkeiten des Lebens, der Liebe, der Kunst. Kein Bewusstsein für die aufziehende drohende Gefahr durch die Nazis, kein Bewusstsein für die eigene jüdische Identität. So rollt die Geschichte über das Leben der Protagonisten und zerstört Leben und Lebenslust. Helene rettet sich in eine andere Identität, sie wird verlassene Ehefrau und Mutter.

Julia Franck gelingt es in ihrem Roman die Geschichte eines Lebens in die Geschichte der Deutschen zu betten. Ein Leben, dass von Beginn an nicht religiös anmutet und die jüdische Identität lange Zeit nur untergründig, z.B. in der Ablehnung der Bautzener Bevölkerung gegenüber Helenes Mutter, ahnen lässt. Nebeneinander stehen die Lebensgeschichten von Peter und Helene. Julia Franck erzählt, sie denunziert nicht, sie moralisiert nicht. Sie erzählt von ungewöhnlichen Leben in einer ungewöhnlichen Zeit, die den Menschen ungewöhnlich viel abverlangte, vor allem den jüdischen Menschen, die noch nicht einmal wussten, dass sie Juden waren, sondern die durch Gesetze dazu gemacht wurden. Der Roman -Die Mittagsfrau- ist eine spannende Familiengeschichte, die den Leser dazu bringt über eigene Haltungen, Vorurteile und Urteile nachzudenken. Schnell wechseln die Urteile, bestimmt vom Mitleid: der arme Junge, das arme Mädchen, die arme Frau, der einsame junge Mann. Das Mitleid will, dass einer die Schuld hat, aber genau das bietet Julia Franck mit ihrem Buch nicht. Sie löst die Problematik dieser Leben eben nicht durch die Einführung einer Schuldfrage, so dringend ich als Leserin mir das auch wünsche. Sie stellt nebeneinander, verschachtelt miteinander. Mitfühlend ja, aber ihre Figuren sind genau gezeichnet. Das Leben in all seinen Facetten und das macht fast jede Entscheidung von Mutter und Sohn erklärbar.

Ein trauriges, ein lebensfrohes und nachdenkliches Buch hat Julia Franck da geschrieben. Eines für die stillen Regentage im Frühjahr. Sehr empfehlenswert, auch oder gerade weil der Roman dem Leser viel abverlangt: mitdenken, mitfühlen, stehen lassen, aushalten, ansehen.

-Die Mittagsfrau- Julia Franck, 9. Aufl., Fischer Verlag, 2007, 430 Seiten, 19,90 â?¬

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systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
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