Begegnung mit meinem jüngeren Ich

Ich reise gleich in die Vergangenheit zu einer Begegnung mit meinem jüngeren Ich. Im Gepäck habe ich eine Botschaft für diese jüngere Version von mir. Ich habe mich schick gemacht, war in der Badewanne und sitze jetzt hier in der Küche vor meinem Laptop und warte darauf, dass es losgeht. Ein Windhauch trägt ein Herbstblatt durch das geöffnete Fenster und …

Ich bin ein wenig aufgeregt. Stehe dir gegenüber und bin im ersten Moment ein wenig neidisch. Deine zarte Haut gepaart mit der kühlen, ein wenig arroganten Ausstrahlung. Würde ich dich nicht kennen, ich fände dich interessant und gleichzeitig würde ich sehr wohl dein „Komm mir nicht zu nah“ wahrnehmen.
Doch ich kenne dich, denn ich bin du, nur etwas älter, bzw. bin ich die geworden, die aus dir geworden ist. 35 Jahre später. Oder wenn ich deinen Blick richtig deute: Du siehst mich vor dir stehen, vom Leben weich geschliffen, abgerundet. Doch ich weiß, dass auch du mich erkennst. Du siehst mir in die Augen und dein spöttischer und dennoch anerkennender Blick sagt mir: „Na wenigstens hast du den Kampfgeist nicht verloren!“

Es ist verrückt. Eigentlich bin ich gekommen, um dir etwas zu sagen und jetzt, spüre ich, du hast mir genauso viel zu sagen. Ich kann nicht einfach meine Botschaft herunterrasseln und wieder in meiner Zeit verschwinden. Du beeindruckst mich, mit der Konsequenz, mit der du vor mir stehst. Das hatte ich nicht erwartet und doch empfinde ich es so. Diese Konsequenz lebt noch in mir, ich hatte sie nur ein wenig vergessen. Du taxierst, du hörst zu und dann entscheidest du. Hart und kompromisslos. Dass du so bist, dafür bin ich dir heute noch dankbar. Denn deiner Entscheidung „So geht nie wieder ein Mann mit mir um!“ verdanke ich, dass ich heute in der Lage bin, echte und nährende Beziehungen zu leben. Weil du diese Entscheidung getroffen hast, konnte ich mich einlassen auf Beziehungen. Lernte meinem Gefühl zu vertrauen, wer gut ist für mich und wer nicht.

Eigentlich bin ich zu dir gereist, um dir zu sagen, dein Leben bleibt nicht so einsam, wie du dich fühlst. Es wird lebendiger, du kannst deine Mauern abbauen. Vertrauen. Dir und anderen. Doch jetzt, wo ich vor dir stehe, spüre ich: Du vertraust dir, du vertraust nur den anderen nicht. Dazu hast du ja auch allen Grund. Ich bin gekommen, um dir zu sagen, dass du nicht allein bist und stehe nun vor dir und weiß, wie viel ich deinen inneren und äußeren Kämpfen zu verdanken habe. Du hast getan, was dir möglich war und ehrlich, ich habe davon nur profitiert. Denn ich muss diese Kämpfe nicht mehr kämpfen. Du hast mir den Weg ins Leben geebnet, in das Leben, welches ich heute so sehr liebe. Ich erinnere mich noch sehr genau daran, wie oft du mit dem Leben haderst, dir wünschst, nicht auf dieser Welt zu sein.

Deshalb stehe ich jetzt vor dir, fast ein wenig beschämt, weil ich dachte, ich könnte dir etwas mit auf den Weg geben. Doch jetzt erkenne ich, wie viel ich dir zu verdanken habe. Die Uhr tickt, ich muss gleich wieder los. Ich ziehe dich in meine Arme, halte dich und merke, dass die Spannung in deinem Körper ein wenig nachlässt. Du schmiegst dich an mich. Ich spüre die Tränen auf meinem Gesicht und deine Tränen rinnen an meinem Hals entlang. „Danke!“, rufe ich, „Danke!“ bevor ich mich der Strudel der Zeit wieder hier in meiner Küche, vor dem Laptop absetzt.

Begegnung mit meinem jüngeren Ich: Diese Botschaft wollte ich dir bringen: Das Leben früher war die Hölle, und deshalb fühlst du dich einsam und ungeliebt. Doch das bleibt nicht so. Vertraue dem Leben, vertraue dir und öffne deinen Blick für all die kleinen Dinge, die das Leben zu bieten hat. Such dir die Schönheit aus, die dein Leben bereichert, im Wald, auf Reisen, tanze und genieße die Bewegung. ...

Jetzt sitze ich hier, drehe das welke Kastanienblatt zwischen den Fingern und lese die Botschaft, die ich dir geben wollte, noch einmal. Ich lese sie jetzt mit einem anderen Blick. Ich hatte sie wohl geschrieben, um mir zu versichern, wie sehr sich mein Leben verändert hat. Wie ich jetzt weiß, dank dir. Für dich war meine Reise vermutlich nicht wichtig, für mich war sie es. Ich weiß jetzt, dass ich mich um dich nicht sorgen muss, denn du beginnst den Weg, den ich vollenden werde.

Dieser Artikel ist mein Beitrag zu meiner Blogparade: Zeitreise für die Seele: Diese Botschaft habe ich für mein jüngeres Ich. Ich freue mich, wenn du deine eigene Zeitreise unternimmst und dich an meiner Blogparade beteiligst. Wie das geht, erfährst du hier: Blogparade.

Danke fürs Lesen! Ich freue mich, von dir zu lesen.
Herzliche Grüße

2 Kommentare

  1. Marianne Kewitsch 24. Oktober 2023 um 21:20 Uhr

    Wieder sehr schön geschrieben Sylvia! So nah bei dir selbst, wach und klar, zielstrebig und standhaft. Feinfühlig und verbunden. Liebe Grüße Marianne

  2. Rautigunde Meeresschaum 12. Oktober 2023 um 09:28 Uhr

    Ich mochte schon dein früheres Du, obwohl es lange unvertrauter ferner blieb und genau, diese kluge, konsequente, ja mutige Seite sprach mich immer wieder an. Danke für diesen Text, die Idee und das Teilen!

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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