Das Geschenk der Fehltritte: Fehler und Scheitern
Sabrina Linn fragt in ihrer Blogparade: Wie gehst du mit Fehlern um? Erlaubst du dir Fehler und „zu scheitern“? Diese beiden Begriffe „Fehler“ und „Scheitern“ sind mir in meinem Leben schon oft begegnet, als Vorwurf, als Motivation getarnter Vorwurf, um mich kleinzuhalten. Das sorgte dafür, dass ich mich viele Jahre meines Lebens an einem Perfektionismus abarbeitete, dessen Hürden so hoch waren, dass ich zweimal im Burn-out landete.
In meiner Arbeit als Therapeutin und Coach begegnen mir diese Begriffe regelmäßig. Oftmals kommen sie mir Hand in Hand mit den Emotionen Schuld und Scham entgegengerannt. Fehler und Scheitern – zwei Begriffe, die oft negativ konnotiert sind. Das führt dazu, dass wir in unserer Leistungsgesellschaft dazu tendieren, Perfektion anzustreben. Dabei vergessen wir, dass Fehler wesentliche Bestandteile des Lernprozesses sind.
Ich habe das Gefühl, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der Fehler verpönt sind. Lange bin ich auch mit dem Glaubenssatz und der Einstellung durchs Leben gegangen, ja keine Fehler zu machen. Bloß nicht scheitern. Scheitern, das ist schließlich ein starkes Wort und wenn man Dinge nicht zu Ende bringt oder Fehler macht, dann ist man ja gescheitert, oder? Sabrina Linn
Im Folgenden beantworte ich die Fragen, die Sabrina als Inspirationsfragen gestellt hat. Ich nutze sie als Interview-Fragen für mich. Aus meiner Sicht bilden sie eine gute Vorlage für ein Selbstgespräch. Probier es doch einfach mal aus, wenn du dir das nächste Mal Zeit für deine Selbstreflexion nimmst.
Wie definierst du Fehler?
Gelernt habe ich, dass Fehler Handlungen sind, die ich auf eine Art und Weise ausführe, dass ich nicht das Ergebnis erreiche, welches ich erreichen wollte. Oder die von meinen eigenen oder den Erwartungen anderer abweichen. Fehler sind aber auch Urteile, es braucht immer jemanden, der sagt „das ist falsch“. Heute weiß ich, dass Fehler nicht nur unvermeidlich sind, sondern wenn ich in etwas richtig gut werden will, dann muss ich Fehler machen, um zu lernen, wie es richtig geht. Wie bei Kindern hinfallen, aufstehen, hinfallen, solange, bis es klappt. Also sind Fehler vor allem wesentliche Schritte auf dem Weg des Lernens und des persönlichen Wachstums.
Was bedeutet Fehler machen für dich?
Fehler zu machen bedeutet für mich, den Mut zu haben, immer wieder Neuland zu betreten und zu akzeptieren, dass ich nicht allwissend bin. Solange ich Fehler mache, weiß ich, dass ich noch lernfähig bin. Das hat nichts mit Schludrigkeit oder Halbherzigkeit zu tun, wobei das schon auch mal vorkommt, bei Aufgaben, auf die ich keine Lust habe. Abrechnungen zum Beispiel. Da weiß ich, dass es im Grunde nicht an der Rechenaufgabe liegt, sondern daran, dass ich noch keinen guten Umgang mit meiner Unlust gefunden habe. Bei Routineaufgaben passieren Fasel-Fehler. Aber das sehe ich nicht als Fehler. Wenn ich bei der Überprüfung meiner Lernergebnisse für den HP-Psych jedes Mal eine der Demenzen vergessen habe, das ist für mich ein Fehler. Es ist aber vor allem ein Zeichen dafür, dass ich versuche, über meine gegenwärtigen Grenzen hinauszugehen, etwas Neues zu lernen.
Welche Fehler hast du gemacht?
Puh, die Liste meiner Fehler ist lang und reicht von kleinen Missgeschicken bis hin zu gravierenden Fehlentscheidungen. Ich habe Schulden gemacht, um Ausbildungen zu finanzieren, die ich dann nicht beendet habe. Den Umgang mit Geld zu lernen, hat mich nie interessiert, das führte mich in den 90er-Jahren in die Insolvenz. Aus dem Bedürfnis heraus, meine Tochter beschützen zu wollen und aus der Überheblichkeit, zu glauben, ich wüsste, was für sie gut ist, habe ich mich viel zu lange in ihre Lebensentscheidungen eingemischt. Manchmal löste ich mich zu früh, manchmal zu spät aus einer Beziehung. Die häufigsten meiner Fehler entstehen aufgrund von spontanen Entscheidungen, wenn ich mir nicht die Zeit gebe, die Entscheidung zu überprüfen, wenn ich nicht auf meine Intuition höre.
Was hast du aus deinen Fehlern gelernt?
Irgendwie war jeder Fehler war eine Lektion in Demut, Geduld und Hartnäckigkeit. Ich habe gelernt, dass ich vor wichtigen persönlichen Entscheidungen eine Pause brauche, Zeit zum Überdenken: will ich das wirklich? Brauche ich das? Seit der Insolvenz gehe ich bewusster mit meinem Geld um, verschaffe mir einen Überblick über das, was geht und nicht geht. Ich habe einen besseren Umgang mit Geld gefunden. In Bezug auf meine Tochter habe ich losgelassen. Ich habe gelernt, dass ihr Leben auch ihre Entscheidungen braucht. Fragt sie mich nach meiner Meinung, bekommt sie diese. Wenn sie nicht fragt, halte ich die Klappe. War es eine Fehlentscheidung, auch wenn ich sie vorhergesehen habe, ich halte die Klappe und tröste, wenn Trost erwünscht ist.
Wie gehst du mit Fehlern um?
Ich versuche, Fehler als Rückmeldung zu betrachten, nicht als Misserfolg. Ich reflektiere, was schiefgelaufen ist, und suche nach Wegen, es beim nächsten Mal besser zu machen. Vielleicht ärgere ich mich mal kurz, aber dann schaue ich, wie ich damit umgehe. Ist es ein Fehler, den ich korrigieren kann, dann korrigiere ich. Entstand der Fehler, weil ich bisher nicht genug weiß, dann lerne ich eben noch weiter. Ist es ein Fehler, der jetzt so in der Welt ist und sich nicht korrigieren lässt, dann stehe ich dazu und versuche ihn beim nächsten Mal zu vermeiden. Ich kann mich für einen Fehler entschuldigen, aber ich mache mich deswegen nicht mehr klein oder zweifle an mir. Ein Fehler ist ein Fehler, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Das Erlauben von Fehlern hat mir geholfen, ein kreativeres und mutigeres Leben zu führen.
Wer beurteilt, was ein Fehler ist?
Heute bin ich es selbst, die meine Handlungen am kritischsten beurteilt. Früher waren es vor allem andere, Eltern, Lehrer:innen, Partner:innen, Chef:innen. Ihre Beurteilungen träufelten häufig wie Gift in mich ein, verstärkten meine Minderwertigkeitskomplexe. Ich wäre gar nicht auf die Idee gekommen, ihre Urteile zu hinterfragen. Das kam erst später, als ich mich traute, mich Schreibgruppen anzuschließen. Dort lernte ich, dass eine Kritik am Text immer etwas Subjektives ist. Was dem einen gefällt, muss der anderen nicht gefallen.
Ich lernte, dass diese Kritik Hinweise sind, dafür, dass ich noch einmal genauer hinschauen darf. Passt der Satz, die Passage wirklich in den Text oder ist es einfach nur eine Stelle, die den Text aufbläht, um ihm mehr Gewicht zu geben. Ich lernte, dass ich die Kritik annehmen oder ablehnen kann, weil es am Ende immer noch mein Text ist. Diese Herangehensweise übertrug ich auch auf mein Leben. Was für einen anderen ein Fehler ist, muss in meinen Augen kein Fehler sein und umgekehrt. Und wenn ich es als Fehler betrachte, bin am Ende ebenfalls ich es, die entscheidet, wie ich damit umgehe.
Erlaubst du dir, zu scheitern?
Das Erlauben von Scheitern ist für mich schwieriger, denn es scheint endgültiger zu sein als ein einfacher Fehler. Aber ja, ich erlaube es mir zu scheitern. Das hat viel damit zu tun, dass ich eine Scannerpersönlichkeit bin. Als ich das noch nicht wusste, war ich oft traurig, wenn ich etwas begann und nicht zu Ende brachte. „Nie bringst du etwas zu Ende“ war der meistgehörte Vorwurf in meiner Kindheit und Jugend. Lange dachte ich, etwas stimmt mit mir nicht, bis ich das Buch von Barbara Sher las „Du musst dich nicht entscheiden, wenn du tausend Träume hast“.
Endlich verstand ich, dass es zu meinem Wesen gehört, eine breite Palette von Interessen und Hobbys haben. Dass ich mich nicht darauf festlegen will, mich nur einer einzigen Leidenschaft oder Karriere zu widmen. Ich habe oft das Bedürfnis, ständig neue Dinge zu lernen und zu erforschen, und fühle mich unglücklich oder eingeengt, wenn ich gezwungen bin, die Vielfalt meiner Interessen zu beschränken. Für mich hat Scheitern also eine ganz andere Bedeutung als für andere.
Was bedeutet Scheitern für dich?
Für viele Menschen bedeutet Scheitern, dass ein angestrebtes Ziel trotz intensiver Bemühungen nicht erreicht wurde. Es ist der Punkt, an dem ein Plan oder eine Idee in ihrer ursprünglichen Form nicht funktioniert hat. Für mich bedeutet Scheitern, nicht genug Zeit für meine Interessen zu haben, das Gefühl zu haben, mich beschränken zu müssen. Scheitern bedeutet für mich auch, wenn ich mich über längere Zeit innerhalb eines vorgegebenen Rahmens bewegen muss, den ich nicht ändern kann. Weil ich erkenne, wie sehr der Rahmen beschränkt, dabei ist es egal, ob das in einem Projekt, einer Beziehung oder auf der Arbeit ist. Ein vorgegebener Rahmen ist für mich wie das permanente Fahren mit angezogener Handbremse. Irgendwann stinkt und qualmt es und das Auto, in dem Falle ich, geht kaputt.
Bist du schon einmal gescheitert?
Gescheitert bin ich schon häufiger. Doch aus meiner Sicht lag dies weniger – wie von anderen unterstellt – an meinem Willen oder an meinen Fähigkeiten, sondern daran, dass ich nicht auf mich geachtet habe. Ich bin in etwas hineingeschlittert, weil es mich interessiert hat und habe nicht darauf geachtet, dass der Rahmen für mich zu eng war. Deshalb habe ich schon mehrfach in meinem Leben den Job gewechselt, weil der Rahmen mein Interesse und meine Freude am Tun erstickt hat. Heute weiß ich, dass Routinen, sich ständig wiederholende Aufgaben, mich derart langweilen, dass ich sie auf die lange Bank schiebe und es besser ist, die Routinen so weit es geht für mich zu minimieren.
Wer beurteilt, dass du gescheitert bist?
Es ist wie bei den Fehlern, letztendlich bin ich es, die das Urteil fällt. Andere mögen ihre Meinungen haben, aber wie ich mein Scheitern wahrnehme und was ich daraus mache, liegt in meiner Hand. Andere halten es für Scheitern, wenn ich ein halbes Jahr intensiv Englisch lerne und dann das Interesse daran verliere. Oder ich beginne eine Geschichte, ein Bild und bringe es nicht zu Ende. Früher hielt ich das auch für Scheitern, heute weiß ich, ich habe für den Moment das Interesse verloren, etwas anderes ist gerade wichtiger für mich. Manche Sachen beende ich wirklich nicht, aber ich ticke so, dass ich nach geraumer Zeit – das können Wochen, Monate oder Jahre sein – dort weitermache, wo ich aufgehört habe.
Insofern scheitere ich eher selten, ich nehme einfach nur Umwege. Betrachte ich mein Leben von außen, also mit Blick auf Zielerreichung und Kontinuität, könnte ich sagen, ich bin schon oft gescheitert. Doch aus der Innenperspektive heraus ist dem nicht so. Mich interessieren Ziele und Zielerreichung nicht wirklich. Das langweilt mich eher. Mich interessieren Menschen, ihre Höhepunkte und Abgründe, mich interessieren Themen, in die ich mich vertiefen kann. Bei all dem gibt es höchstens ein noch nicht genug. Aber das ist für mich kein Scheitern.
Was hast du aus deinem Scheitern gelernt?
Ich habe vor allem gelernt, wie wichtig es für mich ist, bei allem, was ich tue, auf meine Bedürfnisse zu achten. Steht etwas an, was mich nicht interessiert – das haben viele Jobs so an sich, dass es immer wieder einmal Aufgaben gibt, die mich nicht interessieren – weiß ich, ich kann das. Aber nur für eine begrenzte Zeit. Sonst macht es mich unfroh. Das ist auch in Beziehungen so. Wenn ich weiß, der Partner, die Partner:in wünscht sich etwas von ganzem Herzen, kann ich mich darauf einlassen. Ist das etwas Grundlegendes, zum Beispiel will die andere Person jede freie Minute mit mir verbringen, dann nehme ich die Beine in die Hand und renne weg.
Bin ich deswegen beziehungsunfähig? Nein, ich bin nur nicht in der Lage, so eine enge Beziehung zu führen. Ist die Beziehung dann gescheitert? Ja. Ist das schlimm? Für mich nicht, denn ich habe auf mich geachtet und meine Bedürfnisse nicht zugunsten einer Beziehung verleugnet. Insofern hat Scheitern mir die Kraft der Resilienz gezeigt, die Fähigkeit, nach Enttäuschungen wieder aufzustehen. Ich habe gelernt, mir selbst zu folgen, meinen Rhythmus und meine Bedürfnisse ernst zu nehmen und die Grenzen auszuloten. Das macht mich freier und froher.
Hast du Angst vor dem Scheitern?
Nein, nicht mehr. Fehler und Scheitern sind nicht das Gegenteil von Erfolg, sondern Teil des Weges dorthin. Indem ich mir erlaube, Fehler zu machen und sogar zu scheitern, öffne ich die Tür zu unbegrenztem Lernpotential und letztlich zu persönlichem und beruflichem Wachstum. Es ist die Einstellung, die ich meinen Fehlern gegenüber und meinem Scheitern einnehme, die bestimmt, wie ich mein Leben gestalte – nicht die Fehler und das Scheitern an sich.
[…] Sylvia Tornau: Liebe Sabrina, deine Blogparade hat mich angeregt, für mich einmal tiefer in das Thema einzutauchen. Ich habe deine Inspirationsfragen einfach als Leitfaden für ein Interview mit mir selbst genutzt und spannenderweise herausgefunden, dass es nur wenig gibt, was ich als Scheitern betrachte. Danke für diese Anregung. Hat mir Spaß gemacht. LG Sylviahttps://www.sylvia-tornau.de/fehler-und-scheitern-so-baue-ich-negative-gefuehle-ab/ […]
Liebe Sabrina, ja, das mit dem die Dinge beenden trieb mitunter merkwürdige Blüten. Ein Buch angefangen, zwang ich mich es von der ersten bis zur letzten Seite zu lesen, obwohl es mich langweilte. Was für eine Zeitersparnis, dies nicht mehr machen zu müssen :-). LG Sylvia
Liebe Sylvia,
danke für deinen Beitrag zu meiner Blogparade und die ehrlichen und persönlichen Einblicke.
Ich bin total bei dir, wenn du schreibst, dass es letztendlich bei dir liegt, die du Fehlern und Scheitern wahrnimmst, bewertest und was du daraus machst. Ich habe auch früher gedacht, dass es ein Fehler ist, wenn ich Dinge nicht zu Ende mache und so viel Neues beginne, heute sehe ich das anders, kenne mich aber selbst auch viel besser.
Heute ist mir klar, dass mir das häufig von Menschen impliziert wurde, die Dinge durchziehen, denn das macht man ja so, starr und extrem logisch-rational unterwegs sind und ungern loslassen.
In diesem Sinne von Scanner zu Scanner herzlichen Dank,
Sabrina