Achtsamkeit am Achten – Februar 2024
Die Atemtherapeutin Susanne Wagner lädt jeden Monat am 8. dazu ein, 8 Momente vom Tag aufzuschreiben, die du mit wachen Sinnen wahrgenommen hast. Das ist eine Form der Achtsamkeit und es bedeutet, erst einmal wahrzunehmen ohne zu bewerten. Was siehst, hörst, spürst du? Wo im Körper spürst du es? Fühl es für einen Moment und dann schreib es auf. Hier darfst du dann auch bewerten.
Achtsamkeit am Morgen
- Heute Morgen wurde ich von warmen, krabbelnden Fingern im Gesicht geweckt. Eine leise Stimme, flüstert mir ins Ohr: „Oma, du schnarchst“. In der ersten Schrecksekunde, ob der ungeheuerlichen Störung meines heiligen Schlafes, will ich losgrummeln. Im selben Moment schießt mir die Erkenntnis durch den Kopf „Momo!“ Ich öffne die Augen und sehe in dieses verpuffelte und verschmitzt grinsende Kinderkindergesicht, in dem die blaugrauen Augen zu dieser frühen Stunde schon unverschämt wach leuchten. Sofort durchströmt mich ein Hochgefühl. Ist es Glück, Liebe, Verbundenheit? Ich weiß es nicht. Wahrscheinlich ein Cocktail aus all dem. Ein Gute-Laune-Wachmach-Cocktail. „Omas dürfen schnarchen“, antworte ich mit einiger Verzögerung und stupse Momo mit dem Finger an. Ergebnis: der erste Lachanfall des Tages.
- Seit Januar übernachtet Momo von Mittwoch auf Donnerstag bei mir. Pünktlich vor dem Morgenkreis, also gegen 08.30 Uhr sind wir im Kindergarten, weil bei mir 9 Uhr die Teamsitzung beginnt. Das hat den Nachteil, dass wir beide morgens nur wenig Zeit haben. Für mehr Zeit müssten wir eine Stunde früher aufstehen. Das schaffen wir nicht. Dafür kuscheln wir zu gern im warmen Bett miteinander. Diese wenige Zeit stresst mich. Ich habe den inneren Disput: wie schaffen wir das alles – Morgentoilette, Frühstück, Zähneputzen, pünktlich im Auto sitzen – ohne, dass ich meinen Stress auf Momo übertrage. Ich erklärte ihr, was wir, in welcher Reihenfolge machen müssen. Sie durfte dafür noch in eine 20-Minuten-Folge ihrer Lieblingsserie „Mia and Me“ abtauchen. Pünktlich 08.20 Uhr saßen wir im Auto. Vorher gab es noch den zweiten Lachanfall des Tages: das High-Five zum Glückwunsch, wie großartig wir das wieder gemacht haben, gelang uns erst beim vierten Versuch.
Achtsamkeit unterwegs zur Arbeit
- Wenn es mit seinem Dienstplan passt, nehme ich meinen Kollegen Oli im Auto mit zur Teamsitzung. Oli wohnt im selben Stadtteil, doch bis in die WG ist er mit den Öffentlichen eine halbe Stunde länger unterwegs. Außerdem mögen wir uns von ganzem Herzen und deshalb ist es mir eine Freude, wenn wir zusammen unterwegs sind. Oli redet, ich fahre und zwischen uns breitet sich eine Wolke Miteinanderwohlfühlen aus. Die Basis dafür, ist die auf Sympathie beruhende, einander akzeptierende, Selbstverständlichkeit des Miteinander. Heute spürte ich, wie sich eine große Ruhe in mir ausbreitete, wie wir so nebeneinander im Auto saßen. Ich spürte, die Verbundenheit zwischen uns und wie dies mein Ich-bin-zu-Hause-in-der-Welt-Gefühl erweitert.
Achtsamkeit in der Teamsitzung
- In der Teamsitzung erfuhr ich, dass unsere WG-Älteste – 17 Jahre – vergangene Woche sich zum ersten Mal in der Straßenbahn von Männern belästigt fühlte und Angst hatte. So viel Angst, dass sie die Kolleg:innen darum bat, eine Tracking-App auf ihrem Handy zu installieren, damit wir immer wissen, wo sie ist. Ich spüre, wie die ohnmächtige Wut, einer Giftschlange gleich, durch mein Nervensystem kriecht. Mich macht das so wütend. Ich konnte mich nicht vor dieser übergriffigen Sch … beschützen. Meine Tochter auch nicht. Ich kann die Mädchen der WG nicht davor beschützen und vermutlich Momo in ein paar Jahren auch nicht. Was sind das nur für Typen … die gehören …! Stopp! Halt! Mit einem tiefen Atemzug bremse ich mich aus. Ich mache mir bewusst, dass ich als Leitung hier am Tisch sitze und die Kolleg:innen mit dieser hochgradig wütenden Sylvia nichts anfangen können. Mit einem kurzen Körper-Scan erde ich mich und wir sammeln Ideen, wie wir unsere WG-Mädchen auf solche Situationen besser vorbereiten können.
Achtsamkeit in der Freizeit
- Nach der Arbeit habe ich noch 3 Stunden Zeit, bis mein Zug abfährt. Die Tasche ist bislang nicht gepackt, ich muss noch ein paar E-Mails schreiben und Momos Spielecke aufräumen. Wenig Zeit und noch viel zu tun. Am liebsten würde ich mich schlafen legen. Dafür ist keine Zeit. Also schreibe ich mir zuerst eine Liste, was ich noch erledigen will, nicht vergessen darf. Die Müdigkeit bleibt. Noch zwei Stunden und vierzig Minuten. Ich wage es. Stelle mir den Timer auf 15 Minuten und mache einen Powernap. Ich schlummere schnell ein und schlafe tief, wenn auch kurz. Im Anschluss noch ein paar Dehnungsübungen und ich fühle mich wieder fit und energievoll.
- Am Hauptbahnhof ein großer Schrecken. Die Anzeige am Bahnsteig verkündet, dass der Zug nach Saarbrücken heute ausfällt. Meine erste Reaktion: Resigniert falle ich in mich zusammen. Ich möchte auf der Stelle umkehren, mich in die Straßenbahn setzen und nach Hause fahren. Aber das will ich nicht wirklich. Also Rücken strecken und mich bei der Information anstellen. Die Auskunft, die ich erhalte: „Es tut uns leid, aber unser Computersystem hat heute einen Defekt. Ihr Zug fährt planmäßig.“ Zweifelnd gehe ich wieder zum Bahnsteig und warte. Zu oft schon habe ich erlebt, dass Züge ersatzlos gestrichen wurden. Erst als der Zug einfährt, entspanne ich mich. Das merke ich daran, dass ich mehrfach hintereinander herzhaft gähne.
Achtsam mit meiner Wut
- Ich im Zug sitze und schreibe. Die Erinnerung an die Teamsitzung, an die Angst unserer 17-jährigen, macht mich verdammt wütend. Diese Wut brodelt. Es ist eine alte Wut, die mich ohnmächtig macht. Ich nicht weiß, wohin mit ihr. Eine Wut, die sich gegen die Männer dieser Welt richtet, die sich einen Spaß daraus machen, Mädchen und Frauen zu verstören, ihnen Angst zu machen, ihnen Gewalt anzutun. Es ist eine so irrsinnige Wut, die am liebsten brüllen und all diese Idioten schlagen möchte, wegsperren, die Welt von ihnen bereinigen. Ich spüre, es ist diese Wut in mir, für die ich früher keinen Ausdruck fand, weil sie kein Ziel hatte, weil sie so ins Leere laufend ist. Diese Wut ändert nichts an dem Verhalten solcher Männer. Diese Wut kehrt sich schlimmstenfalls gegen mich und macht mich hilflos und depressiv. Das will ich nicht. Während ich darüber nachdenke, was ich gegen dieses ohnmächtige Brodeln in mir tun kann, erinnere mich an den Fluch von Antonia. (Antonia ist die Matriarchin in einem meiner Lieblingsfilme „Antonias Welt“.)
Ich will diese zerstörerische Wut nicht in mir und deshalb probiere ich mich jetzt und hier an einem Fluch:
Ich verfluche Euch ruchlosen Männer! Möget Ihr, die Ihr Euch an Frauen und Mädchen vergeht, auf ewig unfruchtbar werden, so dass sich Eure finsteren „Gaben“ nicht länger von Generation zu Generation vererben. Möget Ihr Männer, die Ihr Euch über Frauen erhebt, sie belästigt und mit herablassenden Sprüchen quält, langsam und qualvoll bei lebendigem Leib in Euren Körpern verrotten. Siechen sollt Ihr ab heute und immerdar. Der Schmerz soll sich durch Eure Körper fressen und nicht enden, bis zu jenem Tag, an dem Ihr zur Vernunft kommt oder sterbt!
Hat das jetzt was gebracht?
- Tat mir das jetzt gut? Es ist befremdlich, dies hier so aufzuschreiben, es beschämt mich auch ein wenig, weil eine Stimme in mir sagt, wie albern sie das findet. Eine andere Stimme sagt „Ich weiß, mein Fluch wird nichts ändern“. Eine, dritte, etwas zaghafte Stimme flüstert: „wer weiß – jetzt ist er in der Welt und kann seine Wirkung entfalten“. Ich habe keine Lust mehr, den Stimmen zu lauschen. Also schließe ich die Augen, atme ein paar Mal durch die Nase tief ein und aus. Die Gedanken in meinem Kopf werden leiser und bei einem tiefen Seufzer spüre ich, wie sich mein Körper entspannt. Also ja, das hat mir gutgetan.
Ich finde, dieser Tag war eine schöne Übung darin, auf meine Sinne und meine Körperreaktionen zu achten und meine Wahrnehmung zu schulen für die kleinen Reaktionen. Falls dir das gefällt und du Lust hast, es auch einmal auszuprobieren, dann schau dir Susannes Anleitung an und mach mit. Der nächste 8. kommt ganz sicher und dann mach doch einfach mit.
Aufstehen und in Würde strahlen!
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Ich danke dir dafür!
Ein emotional sehr gemischter Tag. Danke für den Einblick in deinen Tag.
Liebe Grüße
Tanja
Wow, Silvia, was für ein emotional anspruchsvoller Tag. Einen Fluch aufzuschreiben habe ich noch nie getan. Aber ich habe mir schon einige Bilder vorgestellt und auch gemalt, was ich mit diesen Personen tun möchte. Ich habe ziemlich Respekt vor Flüchen. Mir fallen Bücher ein, wo Menschen verflucht wurden, scheinen wirksam zu sein.
Danke für diese Gedanken. Mögen alle Menschen auf dieser Welt sich sicher fühlen.
Gruß
Silke
Liebe Sylvia,
Vielen Dank für diesen Einblick in deinen Tag. Besonders dein Fluch hat mich berührt. Ich feiere ihn als Möglichkeit aus der Hilflosigkeit.
Liebe Grüße Jutta