Alltagsdissoziation – was du tun kannst
„Ich bin erschöpft, müde, fühle mich einsam, leer und unverbunden.“ Diese Beschreibung finde ich ständig, wenn ich durch meine alten Tagebücher blättere. Ich kann durchaus behaupten, dass dies lange Zeit mein „Normalzustand“ war. Genau genommen habe ich ein permanent abgedämpftes Leben geführt. Ich war wie abgetaucht und vom Leben abgeschnitten. Dissoziation im Zusammenhang mit Trauma ist ein bekanntes Phänomen. Doch darum geht es mir heute nicht. Heute möchte ich gern die sogenannten Alltagsdissoziation in den Fokus stellen, denn die anfangs beschriebenen Emotionen tauchen, wenn auch sporadisch und weniger heftig, auch heute noch in meinem Leben auf und viele Klient:innen berichten darüber.
(Alltags-)Dissoziation lässt sich als eine Art Trancezustand beschreiben. Die Intensität und Art der Trance von Fall zu Fall variieren kann. Die Trance legt sich wie eine Scheibe Milchglas zwischen die Situation, in der ich mich befinde und mich. Ich fühle mich wie in einen schützenden Kokon eingehüllt, der alles, was von außen und innen auf mich einströmt, dämpft. Während dieser Trance kann ich trotzdem eine Vielzahl von Empfindungen erleben.
In unserer westlichen Kultur ist es durchaus „normal“, Momente der Alltagsdissoziation zu erleben. Diese Trancezustände können in verschiedenen Situationen auftreten. Oft sind sie mit dem hektischen Lebensstil und den zahlreichen Ablenkungen unserer Zeit verbunden. Situationen, in denen wir uns vermutlich alle schon einmal befunden haben, in denen wir die Zeit vergessen, sind: beim Autofahren, beim Fernsehen, bei der Nutzung von Smartphones oder Computern; bei der Ausführung alltäglicher Aufgaben wie Kochen, Putzen oder Wäsche waschen. Hier erweist sich die Alltagsdissoziation als nützlich, da die Tätigkeiten oft automatisiert und wenig anspruchsvoll sind. Doch es gibt da auch noch die andere Seite der Alltagsdissoziation.
Was ist Alltagsdissoziation?
Am besten beschreiben lässt sich Alltagsdissoziation als ein psychologisches Phänomen. Dieses kann dazu führen, dass die Person sich wie in einem Zustand der Entfremdung, Desorientierung oder Abwesenheit fühlt, obwohl sie physisch präsent ist und an den Aktivitäten des täglichen Lebens teilnimmt. Alltagsdissoziation lässt sich auch als Alltagstrance beschreiben.
Häufige Merkmale der Alltagsdissoziation
- Entfremdung von der Umgebung: die Umgebung erscheint unwirklich oder fremd, als würde sie aus der Ferne betrachtet.
- Entfremdung vom eigenen Körper: sich vom eigenen Körper entfremdet fühlen, als würde man sich selbst von außen betrachten.
- Gedämpfte Emotionen: gedämpfte Emotionen oder ein Gefühl der Emotionalität, das auf Distanz gehalten wird.
- Gedämpfte Sinneswahrnehmungen: Die Wahrnehmung der Sinne wie Sehen, Hören, Schmecken oder Berühren kann während einer dissoziativen Episode beeinträchtigt sein.
- Zeitverzerrung: Die Wahrnehmung der Zeit kann gestört sein, die Zeit vergeht entweder viel langsamer oder viel schneller als normal.
- Vermindertes Bewusstsein für Handlungen: handeln, ohne sich der Handlungen bewusst zu sein, automatisierte Handlungen.
Alltagsdissoziation kann in unterschiedlichem Maße auftreten und normalerweise ist sie vorübergehend und situationsbedingt. Als kurzfristige Bewältigungsstrategie ist sie sehr nützlich – zum Beispiel beim Autofahren, und entlastend in Stress- und Überforderungssituationen. Doch die Übergänge in die Chronifizierung sind fließend. Überdies kann eine häufige Alltagsdissoziation auf verschiedene psychische Gesundheitsprobleme hinweisen, einschließlich dissoziativer Störungen, Trauma oder übermäßigen Stress.
Unterschied zwischen Dissoziation und Alltagsdissoziation
Der Unterschied zwischen Alltagsdissoziation und Dissoziation liegt im Ausmaß und in der Schwere der Symptome sowie in der Art der Situationen, in denen sie auftreten. Die wichtigsten Unterschiede sind:
Alltagsdissoziation
- Häufigkeit und Dauer: tritt häufiger und kürzer auf. Es sind vorübergehende Momente, in denen jemand das Gefühl hat, von der Realität oder den eigenen Empfindungen entfremdet zu sein.
- Alltägliche Aktivitäten: tritt im Kontext alltäglicher Aktivitäten auf, wie zum Beispiel beim Einkaufen, Autofahren oder während eines Gesprächs.
- Lebensbeeinträchtigung: Alltagsdissoziation führt in der Regel nicht zu erheblichen Beeinträchtigungen im täglichen Leben. Die betroffene Person kann oft normal funktionieren und bemerkt diesen Zustand kaum.
- Bewältigungsmechanismus: In einigen Fällen kann Alltagsdissoziation als ein Bewältigungsmechanismus dienen, um mit stressigen Situationen oder überwältigenden Gefühlen umzugehen.
Dissoziation
- Häufigkeit und Dauer: umfasst oft länger andauernde Zustände oder wiederkehrende Episoden, in denen eine Person das Gefühl hat, von der eigenen Identität oder Realität getrennt zu sein.
- Schwere Symptome: Dissoziative Störungen, wie die dissoziative Identitätsstörung (früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt), sind mit schweren Symptomen wie Gedächtnisverlust, Identitätswechsel und erheblichen Beeinträchtigungen im täglichen Leben verbunden.
- Auslöser: Dissoziative Episoden werden oft durch traumatische Ereignisse ausgelöst.
- Professionelle Hilfe: Dissoziative Störungen erfordern in der Regel professionelle Behandlung und Psychotherapie, um die zugrunde liegenden Ursachen und Symptome anzugehen.
Zusammengefasst handelt es sich bei Alltagsdissoziation um vorübergehende und teilweise nützliche Trancezustände ohne schwerwiegende Symptome, die in stressigen oder überwältigenden Momenten auftreten können. Dissoziation hingegen ist ein komplexeres und schwerwiegenderes Phänomen, das oft mit traumatischen Erfahrungen und/oder einer diagnostizierbaren dissoziativen Störung verbunden ist.
Ursachen für Alltagsdissoziation
Alltagsdissoziation kann verschiedene Ursachen haben, manche davon sind eher nützlich, andere solltest du ausschließen bzw. dir Hilfe und Unterstützung suchen. Wie schon erwähnt sind die Übergänge fließend, zwischen „normaler“ Alltagsdissoziation und der, die dich leiden lässt, weil sie dich von deiner Umwelt und von dir selbst entfremdet. Es ist wichtig zu wissen, dass Alltagsdissoziation nicht immer ein Zeichen für eine psychische Störung ist und in bestimmten Situationen, wie intensivem Stress oder Erschöpfung, vorübergehend auftreten kann. Wenn jedoch dissoziative Symptome chronisch oder stark ausgeprägt sind und das tägliche Leben beeinträchtigen, sollte professionelle Hilfe in Anspruch genommen werden, um die zugrunde liegenden Ursachen zu verstehen und geeignete Maßnahmen zur Bewältigung zu entwickeln.
Ursachen, die du überprüfen solltest
- Stress und Überlastung: hohe Anforderungen auf der Arbeit, in der Schule, bei Beziehungsproblemen oder anderen Lebensbelastungen
- Trauma: traumatische Erfahrungen, wie Missbrauch, Unfälle oder Kriege
- Angststörungen: Menschen mit Angststörungen können häufiger dissoziative Symptome erleben
- Depression: Gefühl der Entfremdung von der Umwelt oder vom eigenen Selbst manifestiert sich
- Persönlichkeitsstörungen: dissoziative Identitätsstörung (früher als multiple Persönlichkeitsstörung bekannt),
- Drogenmissbrauch und Medikamente: kann dissoziative Zustände auslösen oder verstärken.
- Organische Ursachen: organische Ursachen wie beispielsweise epileptische Anfälle, neurologische Störungen oder Hirnverletzungen
- Schlafmangel: chronischer Schlafmangel kann dazu, dass die Realität verzerrt oder entfremdet erscheint
- Als Bewältigungsmechanismus: um mit schwierigen Lebenssituationen oder starken Emotionen umzugehen
Hier erweist sich Alltagsdissoziation als hilfreich und nützlich (wenn sie nur kurz auftritt!)
- Stressbewältigung: in stressigen oder traumatischen Situationen (z.B. Verkehrsunfall) zur Abmilderung der Intensität der Emotionen und um die psychische Belastung zu reduzieren
- Schmerzbewältigung: durch die Entfernung von den körperlichen Empfindungen wird der Schmerz vorübergehend gelindert
- Kreative Prozesse: Ausblenden der Umgebung und starke Konzentration auf die kreativen Aufgaben
- Tiefes Nachdenken: Eintauchen in tiefe Gedanken oder Selbstreflexion, ohne von äußeren Ablenkungen gestört zu werden
- Fluchtmechanismus: um gefährlichen oder beängstigenden Situationen vorübergehend zu entkommen, bis die Bedrohung vorbei ist
- Alltägliche Aktivitäten: automatisiertes Handeln (Autofahren, Haushalt etc.) ermöglicht körperliche und geistige Entspannung
Symptome von Alltagsdissoziation
Die Symptome von Alltagsdissoziation können variieren und sich von Person zu Person unterscheiden. Hier findest du einige häufige Anzeichen und Symptome, anhand derer du selbst oder andere Menschen möglicherweise erkennen können, dass bei dir Alltagsdissoziation auftritt.
Daran merkst du es selbst
- Gefühl der Entfremdung: du fühlst dich von deiner Umgebung oder deinem eigenen Körper entfremdet. Die Welt um dich herum erscheint unwirklich oder fremd.
- Gedämpfte Emotionen: du empfindest dich selbst als gedämpft oder abgestumpft. Freude, Traurigkeit oder Angst sind weniger intensiv als gewöhnlich.
- Zeitverzerrung: du hast da Gefühl, dass die Zeit entweder viel langsamer oder viel schneller vergeht als normal.
- Verminderte Sinneswahrnehmungen: du siehst und hörst schlechter, spürst Berührungen kaum und das Essen schmeckt fade, egal, was du isst.
- Gefühl der Automatisierung: du ertappst dich dabei, dass du Handlungen ausführst, ohne dir bewusst zu sein, was du da gerade tust.
- Verlust von Erinnerungen: du hast Gedächtnislücken, bist nicht so schlagfertig, wie du es von dir gewohnt bist oder dir fallen nicht die passenden Worte ein, obwohl das für dich normalerweise kein Thema ist.
Daran merken es andere Menschen
- Abwesenheit: du wirkst abwesend oder scheinst nicht bei der Sache zu sein, wirkst in Gedanken verloren.
- Verändertes Verhalten: Du wirkst ruhiger, emotionsloser oder weniger ansprechbar.
- Sprachliche Veränderungen: du sprichst anders als sonst oder deine Sprachmuster sind verändert.
- Verwirrung: du wirkst in deinem Verhalten oder deiner Reaktion verwirrt oder verunsichert, nicht ganz bei dir.
Was du tun kannst, um wieder mehr im Hier und Jetzt zu sein
Manchmal spürst du die negativen Auswirkungen der Alltagsdissoziation. Du bist schlecht gelaunt, fühlst dich in deiner Haut nicht wohl, spürst kaum noch die Verbindung zu dir selbst und zu anderen Menschen. Dies kann eine herausfordernde Erfahrung sein, deshalb zeige ich dir hier ein paar Strategien und Techniken, die helfen können, damit umzugehen. Probier einfach aus und finde heraus, was für dich passend ist.
- Selbstbeobachtung: Achte darauf, welche Situationen, Auslöser, Gedanken dich dissoziieren lassen?
- Atmung: Atemtechniken wie tiefe Bauchatmung oder die bewusste Verlangsamung der Atmung auf 5 bis 7 Atemzüge pro Minute können helfen, dich mit dem Hier und Jetzt zu verbinden.
- Bodyscan: Gehe deine Körperteile nacheinander durch und achte auf die Empfindungen in jedem Bereich. Dies kann helfen, dich wieder mit deinem Körper zu verbinden.
- Bodenkontakt: Wenn du dich entfremdet fühlst, versuche, deine Aufmerksamkeit auf den Boden zu richten. Spüre, wie deine Füße den Boden berühren, und nimm die Textur oder Temperatur wahr. Oder probiere es mit der Gehmeditation.
- 5-4-3-2-1-Übung: Benenne fünf Dinge, die du sehen kannst, vier Dinge, die du hören kannst, drei Dinge, die du spüren kannst, zwei Dinge, die du riechen kannst, und eine Sache, die du schmecken kannst.
- Achtsamkeit und Meditation: Regelmäßige Achtsamkeits- oder Meditationspraktiken können dazu beitragen, deine Achtsamkeit zu schärfen und dich besser mit dem gegenwärtigen Moment zu verbinden.
- Notfall-Toolkit: Erstelle eine Liste von Dingen oder Aktivitäten, die dir helfen, dich wieder zu erden und aus der Dissoziation herauszukommen. Dies könnten beruhigende Musik, ein Foto, das dir Freude bereitet, oder ein bestimmter Duft sein.
- Stressbewältigung: Stressmanagement-Techniken wie regelmäßige Bewegung, ausreichender Schlaf und die Vermeidung von übermäßigem Stress können dazu beitragen, das Auftreten von Alltagsdissoziation zu reduzieren.
- Selbstmitgefühl: Sei geduldig und mitfühlend mit dir selbst. Die Bewältigung von Alltagsdissoziation kann Zeit und Übung erfordern.
Fazit
Alltagsdissoziation oder Alltagstrance ist etwas sehr Kluges, was sich unser Körpersystem „ausgedacht“ hat, um uns zu schützen und uns den Alltag so angenehm wie möglich zu machen. Stell dir vor, du müsstest beim Autofahren, kochen, putzen jedes Mal über jeden Handgriff nachdenken – was für eine Anstrengung. Da ist Alltagsdissoziation doch eine Wohltat. Auch in Momenten, in denen wir von uns Höchstleistungen erwarten – in Prüfungssituationen, vor einem wichtigen Geschäftsabschluss – ist es enorm hilfreich, wenn wir alles andere einfach so ausblenden können.
Sollte dieser ausgeblendete Zustand allerdings zur Dauerlösung deines inneren Systems werden, um die Anforderungen deines Alltags bewältigen zu können – zum Beispiel aufgrund permanenter Arbeitsbelastungen oder weil der emotionale Druck zu hoch ist – dann gilt es zu handeln. Meiner Meinung nach liegen hier häufig die Ursachen (neben anderen) für beginnende Depressionen, das Gefühl nicht mehr dazuzugehören, schwindende Lebensfreude. Diesen Beitrag habe ich geschrieben, damit du weißt, womit du es zu tun hast, wenn du dich manchmal so fremd in dir fühlst. Damit du dich auf den Weg machen kannst und dich in deinem Leben wieder wohlfühlst und Freude empfindest, bei dem, was du tust.
Sollte deine Alltagsdissoziation allerdings schon chronisch sein oder stark ausgeprägt, sodass du dich im Leben beeinträchtigt fühlst, dann zieh bitte professionelle Hilfe in Erwägung.
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Herzliche Grüße
Liebe Sylvia, dein Beitrag hat mich angeregt, über das Thema Alltagsdissoziation etwas gründlicher nachzudenken. Vielen Dank für die nachvollziehbaren Erklärungen. Sie haben mir geholfen, das Thema besser zu verstehen und einzuordnen.
Besonders gut gefallen hat mir deine Aufzählung mit Dingen, die man kann, um wieder mehr im Hier und Jetzt zu sein.
Herzliche Grüsse, Esther