Auf dem Jacobsweg in Spanien

Vorbereitung auf den Jakobsweg

Der erste Urlaub des Jahres steht an: meine Pilgerreise auf dem Jacobsweg in Spanien. Ich bin müde. In diesem Zustand fällt es schwer, mich auf die Reise vorzubereiten und auszuwählen, was ich für die Reise benötige und was ich besser zu Hause lasse. Meine letzte 14-tägige Pilgerreise begann ich mit einem 13 kg Rucksack. Diesen Fehler werde ich nicht wiederholen. 7 kg sind das Zielgewicht, 5 kg wären noch besser. Den Rucksack für eine solche Tour zu packen, setzt Vertrauen voraus.

Vertrauen in den Wetterbericht, der aktuell für die Gegend um Sarria (Einstiegspunkt O Cebreiro) 22-24 Grad vorhersagt. Eine schon unterwegs seiende Freundin lief gestern noch bei Temperaturen im einstelligen Bereich, gewürzt mit viel Regen. 14 Tage mit Minimalauswahl an Bekleidung, Musik, Lesestoff. So als wäre es wichtig, welche Kleidung ich trage, während ich durch fremde Landschaft laufe. Als müsste ich mich vor mir selbst verkleiden oder wäre ich falsch, trüge ich die falsche Kleidung.

Momentan fehlt mir jegliches Vertrauen in meine organisatorischen Fähigkeiten, also staple ich erst einmal, was sich überhaupt für so eine Pilgerreise in meinem Haushalt befindet. Wenn ich alles zusammengetragen habe, werde ich entscheiden, was in den Rucksack kommt und was zu Hause bleibt. Wahrscheinlich werde ich in letzter Minute alles noch einmal auspacken, neu sortieren, liegengebliebenes einpacken, anderes auspacken und mich dann unterwegs fragen, warum ich dies mitgenommen und jenes zu Hause gelassen habe. Meine große Hoffnung allerdings ist, dass dies mit jedem Schritt, den ich gehe, unwichtiger wird und am Ende nur eines zählt, dass ich mich in meine Kraft zurücklaufe, mich wieder spüre und aufnehme, was ich erlebe. In Echtzeit, Schritt für Schritt das Staunen neu lernen, wieder neugierig sein.

Ankunft in Santiago de Compostela

Endlich angekommen. Das Flugzeug startete mit Verspätung, der Bus vom Flughafen nach Santiago war gut gefüllt mit PilgerInnen und Rucksäcken, das Hotelzimmer geht als Vorbereitung auf die Kargheit der Pilgerunterkünfte durch. Aber die Stadt, dieses Santiago de Compostela, das ist ein Paradies für alle, die alte Steine lieben und Gossendeckel. Ich liebe alte Steine und schöne Gossendeckel, deswegen freue ich mich schon jetzt auf die Zeit in dieser Stadt. Morgen früh geht es 8 Uhr erst einmal mit dem Bus nach Pedrafita do Cebreiro.

Fazit des Tages: Warten auf Flüge, Busse, Ankommen kann zwar nervig sein, ändert aber nichts an der Freude einen neuen Ort zu finden und mich dort wohlzufühlen.

Piedrafita – O Cebreiro – Fonfria

Eines ist schon am 1. Tag klar, auf dem Camino herrscht die Diktatur der Frühaufsteher. Gegen 7 Uhr durch eine fremde Stadt hetzen, auf der Suche nach dem richtigen Busbahnhof. Dreimal verlaufen und mich dann von einem freundlichen Taxifahrer retten lassen. Nach 3,5 Stunden Busfahrt durch Nebelgebirge Ankunft in Piedrafita. Erste Hürde, 350 Höhenmeter nach O Cebreiro. Dort wartete Sabine auf mich. Schneller Kaffee, Sonnenhut gekauft, Beginner-Stempel abgeholt und losgelaufen. Viel habe ich vom Weg heute bisher nicht mitbekommen, ein paar Blumen, Panoramablick und die Kontraste: Blütenpracht neben Schneeresten.

Nach 17 km war heute Schluss, ich muss mich erst einmal einlaufen. Vor der Nacht gruselt mich noch ein wenig, Doppelstockbetten, viele davon belegt, es riecht nach vielen Menschen, aber richtig heftig riecht es im Vorraum, wo die Stinke-Schuhe stehen. Was mich richtig freute, das erste Pilgermenü gab es in einem Palloza, einem traditionellen galizischen Rundbau. Mit einem leichten Sonnenkasper und 3 Umdrehungen vom galizischen Grappa verabschiede ich mich 21.33 Uhr ins Bett. Mal sehen, wie die Nacht wird.

Fonfria – Pinfin – Morgade

Die km-Angaben unterscheiden sich, je nach Handybetriebssystem und was ich eher vermute, nach Schrittlänge. Je später der Nachmittag, desto kleiner werden meine Schritte. Also nach meinem Handy bin ich gestern 24,23 km gelaufen und heute 20,33 km. Aber eigentlich spielen die km keine Rolle, meine Füße sind die Taktgeber und sie sind es am Ende des Wandertages auch, die ziemlich schmerzhaft vermelden: Es reicht.

Abseits aller sportlichen Erwägungen bin ich ziemlich fasziniert von der galizischen Landschaft. Sattes Grün eingehügelt, die Wege führen uns bergauf, bergab. Alte Steine in jeder Ortschaft, alte Kirchen – wirklich alt, heute waren wir in einer aus dem 11. Jahrhundert – und ohne Ende Kühe. Selbst wenn die Tierchen nicht zu sehen sind, sind sie zu riechen und auf allen Wegen finden sich diverse Hinterlassenschaften.

Gelegentlich begegnen uns am Wegesrand alte Menschen. Der eine erbittet eine Spende, eine andere treibt die Kühe ins Abendlager, und noch ein anderer hütet seine Kirche und lädt zur Besichtigung ein. Keinem kann ich widerstehen. Ich gebe ein paar Euro, grüße mit einem freundlichen jhola und folge brav in die Kirche. Schließlich hat sich der alte Mann mit seinem Krückstock und Trippelschritten zum Wegrand bemüht, um Vorbeiziehenden seine Kirche zu zeigen. An dieser wären wir wirklich vorbeigegangen und das wäre sehr schade gewesen. Der Altar war beeindruckend, selbst für so eine Atheistin wie mich. Mindestens 800 Jahre alte Holzschnitzereien. Früher hätte ich dazu gesagt, Kunst im naiven Stil. Heute denke ich, was ist naiv?

Fazit der beiden Wandertage: meine Füße wollen nicht so, wie ich wohl will und alten Menschen kann ich nicht widerstehen. Sie rühren etwas an in mir, bringen mich dazu Dinge zu tun, die ich vielleicht so gar nicht will und trotzdem fühle ich mich dann irgendwie besser.

Morgade – Gonzade

Meine Füße bekommen auch bei dieser Wanderung, wie bei jeder Mehr-Tages-Tour, so viel Aufmerksamkeit, dass die beiden Kleinen vollkommen verschreckt reagieren. Sie werden gereinigt, gecremt, gestreichelt und besprochen auf dieser Reise, denn sie haben die Hauptlast des Körpers zu tragen, also mich. Im Alltag ignoriert und versteckt, verlasse ich mich auf sie. Schritt für Schritt tragen sie mich, wehren sich nicht mit Blasen, geben dafür täglich ab km 15 schmerzhafte Zeichen, dass sie für heute genug gelaufen sind. Meist ignoriere ich sie dann erst einmal, aber ab km 19 streiken sie. Schleppen sich nur noch mit Aussicht auf Ruhelager die letzten Meter über den Weg. Wollen dafür dann belohnt werden mit oben beschriebener Aufmerksamkeit.

Allabendlich großes Hallo in den Unterkünften. Spanische, englische, schwedische, holländisch-französische, deutsche und koreanische WeggefährtInnen begrüßen sich, als wären wir alle schon längst vertraut miteinander. Die Gespräche finden nur abends statt, unterwegs gibt es nicht mehr als ein hola und Buen Camino, was so viel bedeutet wie richtiger Weg, guter Weg. Die Freude darüber, den Tagesweg geschafft zu haben, verbindet und bei Pilgermenü und Rotwein finden die Gespräche schnell eine Tiefe, die weit in die persönliche Lebensgeschichte Einblick gewährt. Warum läuft der/die andere diesen Weg und nimmt neben all der Schönheit der Landschaft und der Begegnung eben auch das Beschwerliche des Weges auf sich? Da spielen Krisen durch Verlust und Krankheit eine ebenso große Rolle wie die Fremdheit im eigenen Dasein und die Suche nach dem richtigen Leben.

Gonzade – San Xulian – Boente

Vor lauter Anstrengung habe ich die Zeit vergessen. Die momentan einzig geltende Zeit ist die Zeit der Ankunft, weil sie mit der Frage verbunden ist: kann ich vor dem Abendessen noch ein wenig ruhen, lesen, duschen, faul sein. Einfach herumhängen, gammeln, nichts wollen, nichts müssen, nur liegen.

Beim Laufen beschäftigte mich in den vergangenen Tagen die Frage, warum Menschen alles in Kategorien einteilen müssen. Nehmen wir das Pilgern. Sind die „richtigen“ PilgerInnen die, die in Frankreich starten und den gesamten Weg durchlaufen? Oder sind es die, die jedes Jahr ein Stück des Weges gehen? Ist ein Tourist, wer den gesamten Weg geht, aber sein Gepäck transportieren lässt? Spielt das alles überhaupt eine Rolle? Wenn ja, für wen spielt das eine Rolle? Ist das überhaupt wichtig? Da werden Diskussionsrunden geführt und Argumente getauscht, aber am Ende zählt doch, was jedeR für sich selbst akzeptiert. Für die Menschen, die am Camino ihre Existenz aufbauen, dürfte es egal sein, ob die vorbei Eilenden, Humpelnden richtige oder falsche Pilger sind. Hauptsache, sie sind hungrig, durstig oder benötigen ein Nachtlager, ein Souvenir, ein Taxi.

So, ich muss jetzt das Licht löschen. Es wird zur Ruhe geläutet.

Boente – O Mempalme – Villa Maior

Die letzten Tage der großen Wanderung. Gestern 25 km, heute 18 km, bleiben für morgen noch mickrige 9 km. Obwohl sich heute bei mir so etwas wie Bedauern einschlich, dass die Pilgerei nun bald endet, bin ich doch auch froh, wenn die Lauferei zu Ende ist. Es ist eben trotz aller Abenteuerlichkeit auch eine anhaltende körperliche Anstrengung und kein langer Spaziergang durch bezaubernde Landschaften und erwachende galizischen Ortschaften. Der Frühling bricht hervor und viele der fast verlassen wirkenden, in weiten Teilen zerfallenen Ortschaften, werden durch die Landwirtschaft und die Pilgerunterkünfte neu belebt. Der alte galizische Baustil erinnert mich sehr an England und Schottland.

Begegnungen

Während meiner Wanderung gab es sehr berührende Begegnungen mit Einheimischen. Ein alter Mann lud Sabine und mich zur Besichtigung seiner 1000-jährigen Kirche ein, die er extra für uns aufschloss. Ein blinder, ebenfalls sehr alter Mann, von dem ich in einer der zahlreichen romanischen Kirchen mein Pilgerheft abstempeln ließ, suchte meine Hand, drückte sie fest und sagte etwas, was ich nicht verstand, aber alle umstehenden Spanier dazu brachte, meine Schulter zu berühren, als ich die Kirche verließ. Eine ganz in Schwarz gekleidete runzelige Frau rief mich zu sich, machte mit der Hand eine segnende Geste und umarmte mich.

Ansonsten begegneten mir die SpanierInnen freundlich reserviert, was aber sicher dem geschuldet ist, dass ich nicht Spanisch spreche und nur wenig Englisch. Sabine und Heleen, meine Pelegrinas, hatten da viel mehr Berührung und Gespräch. Allerdings bin ich, wie wir alle drei, während der Lauferei in mich versunken, folge dem Rhythmus meines Körpers und lasse mich durchfluten von allem, was meine Sinne berührt: Licht und Schatten, Geruch – besonders eingeprägt haben sich mir Kuhdung und Eukalyptus, Farbenspiele und vieles mehr.

Allerdings bin ich auch abends nicht besonders gesprächswillig. Ich höre Sabine, Heleen und anderen gern zu, klebe aber an meinen Bedürfnissen fest. Ich mag duschen, essen, trinken – Orujo, eine galizische Delikatesse, die auch mal aus einer Whiskyflasche ausgeschenkt wird. Wichtig bei einer Kontrolle scheint zu sein, dass die Flasche eine Banderole hat und der Inhalt nicht als selbst gebrannter erkennbar ist. Geschmacklich nah an Trester/Grappa. Schöner Nebeneffekt: das Zeug wärmt, was notwendig ist hier in Nordwestspanien. Denn trotz Sonnenschein und Sonnenbrand ist es noch immer verdammt kalt.

Villa Maior – Santiago de Compostela

Eigentlich hatte ich für diesen Tag mit einem langen Marsch durch ödes Gewerbegebiet gerechnet. Dem war absolut nicht so. Die Wege verliefen zwar oft entlang der Straße, führten aber durch Eukalyptuswälder und kleine Orte mit der typisch galizischen Bauweise.

Wir wurden am Stadtrand von Santiago de Compostela zwar weder mit Jubelrufen noch mit Paukenschlag begrüßt, dafür aber mit einem bezaubernden Garten voller Steinskulpturen. Vor der Kathedrale angekommen, empfand ich erst einmal vor allem Kälte und einen Hauch von Enttäuschung. Vor der Kathedrale stand eine Menschenschlange. Alle wollten sie zur Pilgermesse, allerdings finden PilgerInnen keinen Einlass mit Gepäck. Wir schafften es, pünktlich zu Beginn der Messe Stehplätze in der Kathedrale zu ergattern. Gefühlt, saßen in den Bänken all die BuspilgerInnen – das sind die Menschen, die sich mit dem Bus von Kirche zu Kirche fahren lassen, um so die Stempel für ihre Pilgerausweise zu erhalten. Die Menschen, die mit ihren wunden Füßen kaum noch stehen konnten, fanden keinen Platz zum Sitzen. Also heißt das für mich: Wer sich für die harte Tour des Pilgerns entscheidet, soll das gefälligst bis zur letzten Minute auskosten.

Von der Messe selbst habe ich nicht viel verstanden, war aber sehr berührt von der klaren Sopranstimme der Vorsängerin. Als dann überraschend noch die Botufameiro geschwungen wurde – wird sie wohl nur an Feiertagen – flossen dann doch ein paar Tränen.

Sehr berührt hat mich auch eine Gruppe von PilgerInnen, denen wir unterwegs schon zweimal begegnet waren. Sie begleiteten einen Rollstuhlfahrer auf dem Camino und trugen T-Shirts mit der Aufschrift: A Santiago con Javer (nach Santiago mit Javer). Die Menschen weinten und lachten, als sie sich voneinander verabschiedeten.

Finistera – Entspannen an km 0,00

Die Lauferei ist vorbei. Wir gönnen uns noch 2 Tage Entspannung am galizischen Ende der Welt, am Ende des Camino, am Kap von Finestera bei km 0,00. Erneut überrascht mich Galiziens Natur. Zerklüftete Küste mit bergigem Hinterland. Keine riesigen Hotelanlagen, eher dezenter Tourismus. Ganz unbeschreiblich finde ich die Farben des Meeres. Grün in allen Schattierungen und neben Azur- und Kornblumenblau, Türkis, Taubenblau, Grau und das Weiß der Brandung. Eine Farbsinfonie. So gesehen habe ich diese Farbpalette bisher nur in der Karibik.

Diese Küste habe ich ganz sicher nicht zum letzten Mal besucht, hier gibt es noch viel für mich zu entdecken. Fasziniert haben mich auch die Stellplätze für Wohnmobile, von unten sah es aus, als stünden sie auf der Klippe, hinter ihnen Felsen, unter ihnen die Brandung.

Auf jeden Fall war es eine gute Entscheidung, die Reise hier gemeinsam zu beenden. Im Sonnenuntergang stehend und Sekt trinkend.

Camino Nachbetrachtung

Die bisherigen Erfahrungen mit der Pilgerei auf dem Jacobsweg in Spanien sind für mich durchwachsen.

Ich habe mich regelmäßig mit den Kilometern übernommen, heißt täglich das Gefühl anstelle von Füßen mit Betonklötzen durch zauberhafte Landschaften zu laufen. Weil ich das von meinen Füßen nach langen Laufstrecken kannte, hielt ich es bisher für ’normal‘, wurde aber von meinen Mitläuferinnen belehrt, dass ein orthopädischer Blick auf die Füße wohl nicht schaden würde. Vielleicht werde ich ja irgendwann doch noch leichtfüßig.

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

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