Window of Tolerance: Emotionsregulierung und Stressbewältigung
In einem vorherigen Beitrag habe ich über die möglichen Auswirkungen von Traumafolgen auf die Komfortzone geschrieben. Das „Window of Tolerance“ ist ein weiteres Konzept, welches den Bereich beschreibt, in dem wir uns wohlfühlen. Dr. Daniel Siegel, Professor für klinische Psychiatrie, führte in den 1990er-Jahren das Konzept des Window of Toleranz – des Toleranzfensters ein. Anhand dieses Modells erklärt er den Bereich, indem wir gut auf jede Form von Reizen und Informationen reagieren und wie wir physiologisch funktionieren. Dieser Bereich umfasst im Modell der Komfortzone die Komfort- und die Lernzone. Heißt, hier fühlen wir uns wohl und sicher. Hier lernen wir Neues, können auf angenehme Art konstruktiv kommunizieren. In diesem Bereich sind unsere Emotionen reguliert und es fällt uns leicht, die Anforderungen des Lebens zu bewältigen.
Das Fenster der Toleranz beschreibt die optimale Erregungszone, in der eine Person am besten funktioniert. Innerhalb dieses Fensters können wir unsere Emotionen gut regulieren und effektiv mit Stress umgehen. Wenn wir uns außerhalb dieses Fensters befinden, entweder in einem Zustand der Hyperarousal (Übererregung) oder der Hypoarousal (Untererregung), fällt es uns schwer, klar zu denken und angemessen zu reagieren. – Dr. Daniel Siegel
📖 Lesetipp: Die Alchemie der Gefühle von Dr. Daniel Siegel
In diesem Beitrag erläutere ich das Konzept des Toleranzfensters und wie sich Trauma und Traumafolgestörungen mittels dieses Konzepts ablesen lassen. Das Toleranzfenster ist für mich ein weiteres Modell, mit dem sich viel von den Zuständen, in denen wir uns bisweilen befinden, verstehen lässt. Es hilft uns, unsere Reaktionen auf Stress und Herausforderungen – reale oder solche, die sich in uns abspielen – einzuordnen. Heißt, mittels dieses Modells kannst du dich besser verstehen und gezielt darauf trainieren, leichter in deinem Toleranzfenster zu bleiben bzw. es zu erweitern.
Was ist das Windows of Tolerance – das Toleranzfenster?
Das „Window of Tolerance“ (Fenster der Toleranz) beschreibt den optimalen Erregungsbereich des Nervensystems, in dem eine Person in der Lage ist, effektiv zu funktionieren, emotional stabil zu bleiben und flexibel auf Herausforderungen zu reagieren. Innerhalb dieses Fensters reagieren wir auf Stress und schwierige Situationen auf eine Weise, die sowohl anpassbar als auch gesund ist. Es geht innerhalb des Toleranzfensters also um Balance und Regulation. Dein Körper und Nervensystem funktionieren innerhalb des Fensters optimal.
Um es in einem Beispiel zu verdeutlichen:
Der Einfachheit halber sprechen wir vom Window of Tolerance, aber im Grunde verfügen wir alle über mehrere Toleranzfenster.
Im Alltag stehen uns verschiedene Toleranzfenster zur Verfügung. Diese unterscheiden sich außerdem von Mensch zu Mensch und hängen häufig mit bestimmten Themen oder Gefühlszuständen zusammen. Meine Toleranz für Trauer mag groß sein, und ich funktioniere weiterhin recht gut, wenn ich oder Menschen in meiner Umgebung bitteres Leid erfahren. Sie aber sind möglicherweise schon bei einem geringen Maß an Trauer – Ihrer eigenen oder der Trauer anderer – völlig aufgelöst. Im Gegensatz dazu ist Ärger für mich ziemlich unerträglich. Schon eine erhobene Stimme könnte genügen, um mein enges Toleranzfenster zu sprengen. Für Sie hingegen ist Ärger vielleicht keine große Sache. Sie sehen einen Wutausbruch als etwas an, das „die Luft reinigt“, und machen einfach weiter. Gewöhnlich bestimmen unsere Toleranzfenster, wie wohl wir uns bei bestimmten Erinnerungen, Themen, Emotionen und Körperempfindungen fühlen. Innerhalb unseres Toleranzfensters sind wir aufnahmefähig. Darüber hinaus verhalten wir uns nur noch reaktiv. – Daniel Siegel
Das Window of Tolerance – Modell hilft zu verstehen, wie der Sympathikus und der Parasympathikus zusammenarbeiten, um das Nervensystem zu regulieren. Es erklärt, wie ein Ungleichgewicht zwischen diesen beiden Systemen zu Zuständen von Übererregung oder Untererregung führen kann, und betont die Bedeutung von Techniken zur Nervensystemregulation, um innerhalb des „Windows of Tolerance“ zu bleiben.
Windows of Tolerance – Zusammenspiel von Sympathikus und Parasympathikus
Unser Organismus und vor allem unser autonomes Nervensystem (ANS) haben die Fähigkeit, miteinander zu schwingen. Das ANS lässt sich weiter unterteilen in das sympathische Nervensystem (Sympathikus) und das parasympathische Nervensystem (Parasympathikus). Die beiden werden oft als Gegenspieler bezeichnet. Einfach ausgedrückt: Das sympathische Nervensystem reguliert die Organfunktionen in Stresssituationen oder bei Aktivität, also wenn du mit Stress, (dies kann auch ein anstrengendes Training sein) oder Gefahr konfrontiert bist. Das parasympathische Nervensystem reguliert die Organfunktionen, die „Ruhe-und-Verdauung“-Reaktion hilft dabei, dass dein Körper sich nach einer Stressreaktion beruhigt und entspannt. Ein gesundes Nervensystem bewegt sich flexibel innerhalb des „Windows of Tolerance“ und kann sowohl auf Stressoren reagieren als auch sich danach wieder erholen. Dies bedeutet, dass der Sympathikus und der Parasympathikus effektiv zusammenarbeiten.
Die Schwingungen unseres ANS wechseln zwischen verschiedenen Zuständen
Hocherregte Zustände: Diese werden durch den Sympathikus dominiert oder gesteuert. Der Sympathikus ist verantwortlich für die Bereitstellung von Energie, was zu Kampf- oder Fluchtreaktionen führt. In diesen Zuständen sind wir in höchster Alarmbereitschaft und stark angespannt. Gefühle wie Angst, Wut, Ärger oder Panik sind typisch.
Untererregte Zustände: Diese werden durch das parasympathische System bestimmt. Der Parasympathikus ist der Gegenspieler des Sympathikus und sorgt normalerweise für Regeneration und Ruhe. Allerdings kann dieses System auch zu Zuständen von totaler Ohnmacht, Hilflosigkeit, Depression oder Erschöpfung führen, wenn es übermäßig aktiv ist.
Gesunder Mittelweg – Windows of Tolerance: Der ideale Zustand liegt in der Mitte zwischen diesen Extremen. Es ist am besten, wenn wir weder ständig in hocherregten noch in untererregten Zuständen verharren, sondern elegant in der Mitte schwingen. Ein harmonisches Gleichgewicht ermöglicht es uns, mit Leichtigkeit durchs Leben zu fließen.
Auswirkungen von Trauma auf das Window of Tolerance
Infolge traumatischer Erfahrungen kann sich das Toleranzfenster verengen, weil durch die Reaktion auf das Trauma, das Nervensystem chronisch überlastet ist. Dies beeinträchtigt die Fähigkeit zur emotionalen und kognitiven Regulation. Daraus resultieren unter anderem Traumafolgen wie Hypervigilanz, neurobiologische Veränderungen, psychologische Auswirkungen und im Ergebnis oft mangelnde soziale Unterstützung. Dies trägt dazu bei, dass traumatisierte Menschen Schwierigkeiten haben, in ihrem optimalen Erregungsbereich zu bleiben, weil sich ihr Toleranzfenster verengt hat.
Die Verengung des Window of Tolerance bedeutet, dass die Bandbreite an Erregungszuständen, in denen sich eine Person stabil und funktionsfähig fühlt, kleiner wird und sie auf Stressoren oft empfindlicher reagiert, zu einer höheren Sensitivität neigt und dadurch schneller aus ihrem Toleranzfenster gerät. Diese Verengung des Toleranzfensters in Bezug auf ein bestimmtes Thema, eine bestimmte Emotion führt dann dazu, dass wir im Kontakt mit dem Thema, der Emotion das Fenster sprengen – ins Chaos der Reaktivität springen. Oder sie führt dazu, dass wir fortan Situationen vermeiden, die das Thema berühren, uns mit dieser Emotion in Kontakt bringen und damit solche Ausbrüche auslösen. Damit engen wir uns im Leben ein und führen ein Leben in einem starren Rahmen, der diese Berührungen vermeiden hilft. Im Grunde berauben wir uns damit der Freiheit und dem möglichen Wachstum.
Zustände außerhalb des Windows of Tolerance
Hyperarousal (Übererregung)
Menschen mit Traumaerfahrungen geraten häufiger in einen Zustand der Übererregung, welcher sich in Angst, Panik, Reizbarkeit, Schlaflosigkeit, und Hypervigilanz ausdrückt. Bei einer realen oder vermeintlichen Bedrohung, zum Beispiel durch Flashbacks und Trigger, aktiviert der Sympathikus die „Kampf-oder-Flucht“-Reaktion. Dieser Zustand kann auch bei harmlosen Reizen auftreten, weil das Nervensystem überempfindlich auf mögliche Gefahren reagiert.
Ich habe in meiner Kindheit und Jugend mehrere Auto- und Motorradunfälle erlebt und war bis auf einen Unfall damit allein. Hatte niemanden, mit dem ich darüber sprechen konnte und an so etwas wie Therapie hat damals niemand gedacht. Im Ergebnis vermeide ich es bis heute, lange Strecken allein mit dem Auto zu fahren. Autofahren versetzt mich jedes Mal in den Zustand von Übererregung. Bis 250 km gelingt es mir, die hohe Erregung mit Atemtechniken und beruhigender Musik noch in meinem Toleranzfenster zu halten. Danach bräuchte ich eine längere Pause mit Spaziergängen in der Natur oder Schlaf. Zum Glück gibt es andere Verkehrsmittel, auf die ich ausweichen kann.
Hypoarousal (Untererregung)
Alternativ zur Übererregung können wir in einen Zustand der Untererregung fallen, der durch Gefühle von Taubheit, Dissoziation, Depression und extremer Müdigkeit gekennzeichnet ist. Dies ist häufig eine Reaktion auf überwältigenden Stress, bei der das Nervensystem abschaltet oder erstarrt. Der Parasympathikus dominiert hier, um die Person vor weiterer Überlastung zu schützen.
In den Zustand der Untererregung gerate ich leicht, wenn ich in mein altes Muster „ohne Leistung bin ich nichts wert“ verfalle. Dann arbeite ich über einen längeren Zeitraum durch, treibe mich zu Leistung an. Achte nicht auf meine Ernährung und schlafe zu wenig. Wenn ich diesem inneren Antreiber die Macht über meinen Körper gebe und tage oder gar wochenlang ein ungesundes Tempo und Leistungslevel hochhalte, gehe ich permanent über meine Grenzen. Früher habe ich das monatelang betrieben und bin dann in Depressionen abgestürzt. Heute beobachte ich mich sehr genau und plane regelmäßig Auszeiten ein. Ich arbeite gern viel und schnell, deshalb muss ich mich dabei auch sehr genau beobachten. Nur dann kann ich die Bremse einlegen, wenn der Körper signalisiert: Hunger, Durst, Müde oder ich meine Freude am Tun verliere. Spätestens dann ist es Zeit für eine längere Pause.
Chronische Dysregulation
Traumafolgen können auch zu dauerhaften Veränderungen in der Funktionsweise des Nervensystems führen. Das autonome Nervensystem kann chronisch dysreguliert sein. Das bedeutet, dass die betroffene Person ständig zwischen Zuständen von Hyperarousal und Hypoarousal schwankt. Dies lässt sich unter anderem auf die neurobiologische Veränderungen zurückführen: Traumafolgen beeinflussen auch Hirnstrukturen wie die Amygdala (die an der Angstverarbeitung beteiligt ist), den Hippocampus (der mit Gedächtnis und Lernen verbunden ist) und den präfrontalen Kortex (der für rationale Entscheidungen und Impulskontrolle zuständig ist). Diese Veränderungen verstärken die Tendenz, außerhalb des „Windows of Tolerance“ zu agieren.
Chronische Dysregulation bedeutet also, dass wir uns nur selten im Window of Tolerance befinden. Sie entsteht durch eine Kombination von Traumata, anhaltendem Stress, fehlender Unterstützung und negativen Bewältigungsstrategien. Sie führt zu einer anhaltenden Über- oder Untererregung, die das tägliche Leben und die psychische Gesundheit stark beeinträchtigen kann. Therapeutische Interventionen, soziale Unterstützung und positive Bewältigungsstrategien sind entscheidend, um die Dysregulation zu überwinden und die emotionale und physiologische Balance wiederherzustellen.
Hier noch ein Beispiel, wie chronische Dysregulation entsteht:
Wie du in deinem Window of Tolerance bleiben und es erweitern kannst
Das Modell des „Window of Tolerance“ bietet dir einen Rahmen, um zu verstehen, wie Trauma oder Traumafolgen dein Nervensystem beeinflussen und warum du häufig zwischen Zuständen von Hyperarousal und Hypoarousal schwankst. Die ständige oder häufige gefühlte Bedrohung erschwert deinem System das Schwingen im gesunden Bereich. Durch gezielte therapeutische Interventionen und Selbstregulationstechniken kannst du lernen, dein „Window of Tolerance“ zu erweitern, den Körper wieder in einen normalen Reaktionsmodus bringen und deine Lebensqualität verbessern. Zur Verfügung steht dir hier eine breite Palette an Unterstützungsmöglichkeiten, auf die du begleitet zurückgreifen kannst und an Selbstregulationstechniken.
Hier ein paar Beispiele:
Traumatherapie und Trauma-Coaching: Methoden wie EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), Somatic Experience, kognitive Verhaltenstherapie (CBT) und Embodiment können dir dabei helfen, traumatische Erinnerungen zu verarbeiten und das Nervensystem neu zu kalibrieren.
Körperarbeit: Übungen wie Yoga, progressive Muskelentspannung und tiefes Atmen können dich dabei unterstützen, die Balance zwischen Sympathikus und Parasympathikus herzustellen
Positive soziale Interaktionen: Unterstützung durch Freunde, Familie oder Selbsthilfegruppen kann dir das Gefühl von Sicherheit und Geborgenheit vermitteln, was dein Toleranzfenster erweitern kann.
Selbstregulationstechniken:
- Aktivierung des Parasympathikus – Zustände von Hyperarousal reduzieren: regelmäßige Praxis von Achtsamkeitsübungen, kurze Meditation und Atemübungen, wie z. B. die 4-7-8 Atmung oder die Wechselatmung (Nadi Shodhana), Progressive Muskelentspannung (PMR), Vagusnerv-Stimulation durch Summen oder Brummen, körperliche Stimulation durch sanfte Massagen oder Akupressur, kreative Aktivitäten wie Malen, Zeichnen
- Aktivierung des Sympathikus – Zustände von Hypoarousal reduzieren: Bewegung und Sport, aktivierende Atemübungen wie Kapalabhati (Feueratmung), kalte Duschen, Stimulation der Sinne durch helle Lichter oder laute Geräusche und belebende Düfte, aktive soziale Interaktion
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Herzliche Grüße
Liebe Esther, das freut mich sehr, dass du meine Artikel magst und dir meine Zusammenfassungen gefallen. Danke für deine Rückmeldung! Liebe Grüße Sylvia
Liebe Sylvia
Ich mag deine Blogartikel. Dir gelingt es komplexe Themen so zu beschreiben, dass sie nachvollziehbar und verständlich sind. Vielen Dank, für diesen wunderbaren Artikel mit viel Mehrwert.
Ganz besonders gefällt mir die tolle Zusammenfassung von dem komplexen Zusammenspiel zwischen Sympathikus und Parasympathikus.
Dass jeder Mensch mehrere «Windows of Tolerance» hat, war mir bisher nicht bewusst. Für den Alltag und meine Arbeit als Coach und Supervisorin ist dieses Verständnis jedoch sehr hilfreich.
Ich freue mich schon auf deinen nächsten Blogartikel.
Liebe Grüsse
Esther