Der Zweifel – ein Hohelied auf einen verpönten Wegweiser
Ein Hohelied auf den Zweifel? Zweifel begleiten mich mein Leben lang. Lange Zeit habe ich sie als lästig empfunden. Heute weiß ich, Zweifel sind zwar verpönt, doch sie weisen mir auch den Weg. Mitunter öffnen sich Türen, die sich nie vorher zeigten. Immer wieder gibt es Situationen in meinem Leben, die mich verunsichern, in denen ich zweifle. Ich lese einen Artikel, der mir gefällt, den ich informativ finde. Doch, irgendetwas stört mich daran. Ich stehe vor einer Entscheidung, will den Job wechseln oder mit meinem Partner zusammenziehen. Aber da ist diese Stimme in mir, die fragt, ob das die richtige Entscheidung ist. Eine Prüfung steht an. Ich habe gelernt, mich gut vorbereitet, aber trotzdem gibt es da dieses leise Grummeln im Hinterkopf. Schaffe ich das? Kann ich das? Bin ich gut genug?
In diesem Beitrag dreht sich alles um den Zweifel. Was ist Zweifel? Warum finden wir zweifeln nervig? Wofür ist der Zweifel dennoch gut?
Was sind Zweifel und warum sind Zweifler:innen nicht gut angesehen?
Zweifel sind „Bedenken an der Richtigkeit (eines Sachverhalts, einer Tat, einer Entscheidung)“ so beschreibt es das digitale Wörterbuch der deutschen Sprache. Wer zweifelt, kann sich nicht entscheiden. Nicht sofort jedenfalls. Da heißt es abwägen, überprüfen, nachhaken, recherchieren. Zweifel verunsichert und
Verunsicherung steht in unserer Gesellschaft, in der Sicherheit scheinbar dringend benötigt wird, nicht hoch im Kurs. Bist du für mich oder gegen mich? Antworte ich auf diese Frage mit „Ich weiß es nicht“ könnte es sein, dass ich für mein Gegenüber schnell uninteressant werde. Im schlimmsten Fall werde ich abgelehnt, weil ich nicht sofort „Ja“ sage. In so vielen Dingen wird Positionierung und Klarheit in den Aussagen verlangt. Bei der Weltanschauung, in Fragen von Politik. Man sollte klar benennen können, wer man ist und was eine:n ausmacht. Was man glaubt oder nicht glaubt. Gut oder schlecht findet. Klarheit, Wahrheit und Gewissheit sind die anerkannten Währungen im Dschungel der Unsicherheiten des Lebens und in den Social-Media-Kommentarspalten. Wer klar ist, gewinnt.
Wer ohne Zweifel ist, oder seine Zweifel gut verbergen kann, bekommt den Job, erhält die meisten Likes. Zweifelnde können da nicht mithalten, fallen raus, stellen sich ins Abseits. Wer zweifelt, hat nicht sofort auf alles eine Antwort. Wer zweifelt, stellt Fragen. Fragen können lästig sein, denn sie stellen mitunter Gewissheiten, Wahrheiten infrage.
Warum Zweifeln unangenehm ist und was das Unterdrücken von Zweifeln so gefährlich macht
Zweifel sind verpönt. Sie Zweifel sind unangenehm, ziehen uns den Boden unter den Füßen weg. Zweifel sind anstrengend, quälend und tun mitunter weh. Wir wünschen uns die Menschen, das Leben und die Welt eindeutig, klar und ein wenig vorhersehbar. Doch der Zweifel stört diese Illusion.
Nichts ist eindeutig und klar. Alles ist komplex, mitunter so komplex, dass uns die Vielschichtigkeit ängstigt. Wir durchschauen die Welt nicht. Das Leben fragt nicht, nach dem, was wir wollen. Mein Gegenüber kann auch ganz anders sein, als ich es erlebe. Aus all den kleinen Details, die wir wahrnehmen, aus dem, was wir gelernt und erfahren haben, basteln wir uns eine Sicherheit. Wir nehmen an, dass die Dinge so sind, wie sie sich uns darstellen. Sicherheit ist ein Grundbedürfnis in Zeiten der Verunsicherung. Da wirkt so ein Zweifel schon mal wie ein Frontalangriff auf das sorgfältig zusammengetragene Fundament. Der/die Zweifler:in wird so schnell zum/zur Gegner:in. Zweifel sind unangenehm, weil sie infrage stellen, hinterfragen. Und ehrlich, wer lässt sich schon gern hinterfragen. Sei es von den eigenen Zweifeln, sei es von den Zweifeln anderer. Das tut erst einmal weh. Fühlt sich nach Niederlage an.
Das kennen wir alle: da wird eine Idee geboren, ein neues Projekt vorgestellt und sofort begegnen uns die ersten Zweifel. Kann das so funktionieren? Fehlt da nicht noch etwas? Selten nehmen wir uns die Zeit und den Raum, die Zweifel da sein zu lassen. Dabei ließen sich anhand der Fragen, die sich da zeigen, Fehler vermeiden. Produkte, Angebote und auch eigene Entscheidungen müssten wir seltener korrigieren, revidieren, vom Markt nehmen, würden wir diesen Zweifeln Platz geben. Wenn wir sie richtig nutzen, können sie sich als hilfreiche Helfer auf unserem Weg entpuppen. Und wir können an ihnen reifen. Ambivalenz aushalten zu können, ist in unserer Welt eine notwendige Fähigkeit. Es geht nicht um ENTWEDER ODER. Wir sollten in unsere Kommunikation viel häufiger auf SOWOHL ALS AUCH zurückgreifen und auf das kleine verbindende Wörtchen UND. In der Psychologie wird diese Fähigkeit übrigens unter dem Begriff Ambiguitätstoleranz beschrieben.
Warum Zweifel so viel besser sind als ihr Image
Zweifel sind für mich das lebendige Leben. Sie helfen mir, aus der Enge des schwarz-weiß Denkens auszubrechen. Sie eröffnen mir den Blick auf vielfältige Möglichkeiten und helfen mir, die besseren Entscheidungen zu treffen. Wenn ich ihnen erlaube, sich mir zu zeigen. Im Alltagsdruck sind Zweifel manchmal nicht möglich, da muss ich schnelle Entscheidungen treffen. In der Regel ist es hilfreich, später die getroffene Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Ein Beispiel: ich leite eine Wohngruppe. Ein Kollege ruft mich an, fragt, ob eine Freundin von Kind X bei uns in der WG übernachten darf. Bisher hat noch kein fremdes Kind in der WG übernachtet. Wir haben es im Team auch bisher nicht besprochen, wie wir mit solchen Wünschen umgehen. Ich frage den Kollegen, ob er denn einverstanden wäre, schließlich hat er dann statt acht, neun Kinder zu betreuen. Mit Verweis auf das nächste Team, in dem wir das besprechen, erlaube ich es „ausnahmsweise“. Ich spüre die Freude des Kindes, welche sich durch den Kollegen auf mich überträgt. Hätte ich nein gesagt, so wäre es Enttäuschung gewesen, die ich gespürt hätte. Am Abend habe ich alle Zweifel an meiner Entscheidung aufgeschrieben. Aus allen Für und Wider entwickelte ich ein Konzept, wie wir künftig mit derartigen Fragen umgehen, was es zu berücksichtigen gilt. Dieses Konzept haben wir in der nächsten Sitzung bearbeitet und dabei die Zweifel/Fragen der Kolleg:innen berücksichtigt. Am Ende stand für alle eine sichere Handlungsgrundlage.
Auch das ist mir wichtig, anderen in diesem Fall die Kolleg:innen, in Entscheidungen einzubeziehen. Denn wer seine Zweifel/Fragen äußern darf, fühlt sich gesehen und gehört. Es bedeutet, ich darf kritisch sein, muss nicht blind den Ansagen folgen. Meine Ideen sind gefragt.
Fazit
Zweifel helfen uns, uns zu entwickeln, weiterzuentwickeln. Ohne Zweifel gäbe es keinen Fortschritt und keine bahnbrechenden Erfindungen. Die Wissenschaft basiert auf dem Zweifel, auf dem Fragestellen. Unsere Beziehungen funktionieren so. Eine Beziehung, in der keine Zweifel geäußert werden dürfen, wird sich früher oder später in eine belanglose, unlebendige Beziehung verwandeln. Dabei spielt es keine Rolle, ob ich mir das selbst verbiete oder wir eine stumme Absprache getroffen haben, nicht zu zweifeln. So eine Beziehung bremst das Wachstum und die Entwicklung. Ohne das Hinterfragen der eigenen Position gäbe es keine Annäherung in Konflikten. Der Zweifel an den allen Positionen ist es, der uns erlaubt, auf das Gegenüber zuzugehen.
Ein Freund von mir sagte einmal „Alles, was ein Mensch denkt, ist möglich. Er muss nur herausfinden, wie es geht.“ (Jens Lungwitz)
Beim Herausfinden wie etwas gehen, funktionieren kann, ist der Zweifel mit seinen Fragen, das hilfreichste Vehikel. Mit ihm bewegen wir uns gen Fortschritt und Entwicklung. Lasst uns den Zweifel von seinem negativen Image befreien. Lasst ihn uns dankbar einladen in unser aller Leben. Er ist der willige Helfer, auf dem Weg in eine Zukunft, die geprägt ist vom lebendigen Miteinander.
[…] meinem Artikel „Der Zweifel – Hohelied auf einen verpönten Wegweiser“, kündigte ich sie schon an, diese Unterscheidung zwischen Zweifel und Selbstzweifel. Für mich […]