Gastbeitrag von Volker Wudtke zur Blogparade „geteiltes Leben“
Der erste Gastbeitrag auf meinem Blog folgt meinem Aufruf zur Blogparade „Geteiltes Leben – wie viel DDR steckt nach 35 Jahren Einheit noch in mir?„. Ich freue mich sehr, denn der Autor hat keinen eigenen Blog, wollte die Gelegenheit aber nicht ungenutzt verstreichen lassen. Viel Freude beim Lesen!
Herzliche Grüße Sylvia
P.S.: Volker und ich freuen uns sehr über Kommentare.
Von Geweihen und Geschäften
Warum Selbstbestimmung so wichtig ist, egal wann und wo
Ein Gastbeitrag von Volker Wudtke
Als ich das Thema gelesen hatte, war ich etwas verunsichert wegen des Titels „Geteiltes Leben“. Kann man ein Leben teilen? Es ist mir natürlich klar, dass das metaphorisch zu sehen ist, aber Berichte, Erzählungen oder gar Erklärungen über das Leben in der DDR und die folgenden Jahre der Wiedervereinigung, sind oft verklärt, oft intellektuell überzogen oder dienen nicht selten nur dem Broterwerb. Allerdings fand ich die Berichte im Blog gut und wollte so schnell wie möglich auch was dazu schreiben, dabei merkte auch ich, dass das gar nicht so einfach geht. Ich habe in den letzten Tagen viel darüber nachgedacht und war über mich selbst erstaunt, wie viele Gedanken dazu in meinem Kopf erst mal ein Wimmelbild erzeugten. Gut war auch dein Buchtipp
„Drei ostdeutsche Frauen betrinken sich und gründen den idealen Staat“. Sehr zu empfehlen und exzellent recherchiert.
Leben in der DDR
Einleitend muss ich erst mal schreiben, dass ich sehr froh bin, dass die DDR nicht mehr existiert. Ein Land, in dem leere Bier- und Colabüchsen aus Westdeutschland in gefühlt jedem zweiten Haushalt als Deko auf den Küchenschränken stehen, ist per se dazu verurteilt unterzugehen. So viel Kleinbürgerlichkeit verkraftet kein Land. Damals konnte ich das zwar nicht so in Worte fassen, aber verwundert hat es mich. Genauso war ich mit Beginn meiner Ausbildung (1979, Stahlbauschlosser im Kirow Werk) verwundert (in der Schule klang über die Arbeiterklasse alles so heroisch, homogen und siegesgewiss) über das Gemecker meiner Kollegen über den Staat oder über die Partei oder über die Versorgungslage oder darüber, dass einer einen Farbfernseher hatte und einer eben nicht.
Anderseits wurde während der Arbeitszeit beschummelt (ein Meister im Kirow Werk erfand den 25 Stundentag) es wurde sich gelangweilt, es wurde geklaut, es wurde Pfusch produziert, es wurde während der Arbeitszeit gesoffen und bei Familientreffen, Kegelabenden oder Geburtstagen damit geprahlt.
Es wurde aber auch normal gearbeitet und gelebt. Westdeutschland war für einen Großteil der Bevölkerung das gelobte Land und die Gegebenheiten wurden von vielen so hingenommen. So empfand ich das damals jedenfalls und war ja selbst in der DDR eingerichtet. Mit 25 Jahren verheiratet, eine Tochter, eine halbwegs vernünftige Wohnung und mit dem Trabi im Sommer an die Ostsee.
Nimm dein Leben in die Hand und kümmere dich selbst
Trabi, Wohnung und Ostseeurlaub haben aber nur funktioniert, weil ich neben meiner Arbeit mir selbst beigebracht hatte, Autos zu reparieren, also nicht nur zu reparieren, sondern sehr kaputte Trabis wieder aufzubauen, komplett mit Lackierung, Motortausch und regenerierter Karosse. Ich war fähig, in einer Nacht das Geweih, das wichtigste Teil der Karosse eines Trabis, zu tauschen. Brachte mir viel Bewunderung und viele Ostmark.
Ich wollte nicht abhängig sein von Autoschlossern, Kellnern, Handwerksmeistern oder Gemüseverkäufern. Habe aber eigentlich nur die Abhängigkeit anderer ausgenutzt, damit es meiner Familie und mir materiell gut geht, was wiederum nur in dem System DDR mit seiner verkorksten Plan- und Mangelwirtschaft funktionierte und auch schon eine Zweiklassen-Gesellschaft befeuerte. Es war alles ziemlich illegal und eine gewisse kriminelle Energie war auch nötig, schließlich war es Schwarzarbeit in Reinkultur.
Die Erkenntnis, wenn du ein vernünftiges Leben haben möchtest, musst du dich selbst kümmern, ist daher eine der wichtigsten Prägungen, die ich aus der DDR mitgenommen habe.
Fantastische Zeit – Aufbruchsstimmung im Herbst ’89
Dann kamen die Montagsdemos im Herbst 89, es war eine fantastische Zeit. In einer großen Menschenmenge Gleichgesinnter um den Ring zu laufen und für Veränderungen zu demonstrieren, gab mir das Gefühl von ein wenig Unsterblichkeit. Alles war aufregend, die Nachrichten wurden aufgesaugt wie der erste Liebesbrief, alles wurde diskutiert, teils blauäugig, teils fachmännisch. Plakate wurden aus Bettlaken hergestellt. „SED aus den Betrieben“ war mein Spruch. Das Gefühl, Geschichte zu schreiben, legte sich wie ein kostbares Gewand um die Seele. Leider troddelte das Gewand schnell wieder auf.
Die Gleichgesinnten drifteten nach kurzer Zeit auseinander (nach der Grenzöffnung sehr rasant) die einen wollten Wiedervereinigung, die anderen wollten nur ein Auto, einige wollten Umweltverbesserungen und wieder andere wollten eine eigenständige, reformierte DDR, es gab so viele unterschiedliche Ansichten wie Sprüche in einem Abreißkalender.
Diese Zeit von Herbst 89 bis Februar 90 hat mich insoweit geprägt, dass ich erkannte, wie schnell sich etwas verändern kann, wie schnell Lebensentwürfe zerschellen können, wie schnell Freunde sich abwenden, wie ängstlich und fragil eine Gesellschaft sein kann. Geprägt hat mich aber auch die Erkenntnis, was alles möglich ist, dass das direkte Umfeld, also Lebenspartner, Kinder und Familie, der wichtigste Anker ist, dass man sein Leben komplett selbst gestalten kann und sogar muss, dass Freiheit keine Phrase ist, sondern sehr viele Möglichkeiten eröffnet.
Chancen ab 1990 nutzen
Ab der Grenzöffnung war für mich klar, dass mit oben genannten Fähigkeiten kein Blumentopf mehr zu gewinnen war. Daher erst mal nach Westdeutschland, wie machen die das, wie leben die dort, wie wird gearbeitet. Ist es wirklich das gelobte Land?
Dort wieder die gleiche Verwunderung: In der Firma, in der ich als Schlosser anfing (ein großer Werbetechnikbetrieb), wurde genau so gemeckert, diesmal auf die Chefs, auf die Preise, auf die Regierung, auf die Jugos und Türken – auf die „Ossis“ noch nicht.
Es wurde aber nicht gesoffen, (jedenfalls wurde nicht damit geprahlt), kein Pfusch verließ die Firma und gelangweilt wurde sich auch nicht, eher im Gegenteil. Die Arbeit war gut durchorganisiert und ich verdiente relativ viel Westgeld.
Es war eine schwierige Zeit für mich, einerseits verdiente ich Westgeld, anderseits war die Familie in Leipzig, ich pendelte, wie so viele und fühlte mich nicht wohl. Daher, die gut bezahlte Stelle gekündigt, kurze Zeit für weniger Geld (allerdings auch Westgeld) in einem Handwerksbetrieb in der Nähe von Leipzig als Werkstatt-Leiter an den Start gegangen. Der westdeutsche Chef empfand meine Arbeitszeit von einem dreiviertel Jahr bei einer Konkurrenz-Firma als ausreichende Qualifizierung. Dort hätte ich sicherlich Karriere machen können und materiell wäre es meiner Familie und mir auch gut gegangen. Es war aber nicht mein Ding, ich war abhängig (letztendlich ist man immer von irgendwas abhängig) vom Chef, von seiner Art eine Firma zu leiten, von seinen Ansichten. Dabei hat mich nicht das sogenannte kapitalistische System gestört, ich mache mich krumm und mein Chef trinkt Champagner, was sowieso so nicht stimmt, sondern die Grenzen, die mir auferlegt wurden.
Das muss doch auch hier in Leipzig funktionieren
Also machte ich mich im Oktober 1991 selbstständig und gründete eine Werbetechnik-Firma. Was in Westdeutschland gang und gäbe ist, sollte doch auch in Leipzig möglich sein, ohne Illegalität und mit sehr viel Elan und mit der DDR-Erfahrung: „Kümmere dich selbst“.
Die Anfangszeit war extrem unsicher, was ist Mehrwertsteuer? Was bedeutet Prolongation? Was ist ein Carnet ATA? Diese Fragen tauchten auf. Wie bekomme ich Aufträge? Wie wird bezahlt? Was muss alles auf der Rechnung stehen?
Die Erfahrungen, die ich im Kirow-Werk und bei den zwei Firmen als Angestellter gemacht hatte, halfen mir sehr. Arbeit ist Arbeit und Verwaltung ist Verwaltung, das ist überall auf der Welt so. Enorme Unterstützung kam von der Familie. Ein Wohnzimmer mit Telefonanschluss wurde kurzfristig abgegeben, bei Montageaufträgen wurde gegen einen kleinen Obolus mitgeholfen, Aufträge wurden über Verwandte und Bekannte vermittelt. Ich hatte tatsächlich die Freiheit, selbstständig zu arbeiten, mein Leben selbst zu bestimmen, das war eine tiefgreifende Erfahrung.
Es war und ist kein Zuckerschlecken und gewisse kriminelle Energie braucht man auch, aber die Chance, die sich geboten hat, wurde genutzt, das ist, bei allen Vor- und Nachteilen der jetzigen Gesellschaft, nicht hoch genug zu bewerten.
Abschließendes Fazit zum Blog-Thema
Das Leben verläuft eigentlich linear, wobei es zum Beispiel bei einer Hochzeit ein davor und ein danach gibt. Also auch eine Teilung. Genauso war es im Herbst 89, es gab ein davor in der DDR und ein danach in der BRD – das teilt das Leben ebenfalls. Die Identität ändert sich aber nicht. Wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sage ich mit stolzer Stimme, aus Leipzig, der schönsten Stadt der Welt.
Du willst dich auch zeigen und damit zu dir stehen?
Am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, zeigen Menschen weltweit mit Aktionen und Kundgebungen ihre Solidarität mit gewaltbetroffenen Frauen. Bereits seit 2015 ruft das Hilfetelefon „Gewalt gegen Frauen“ dazu auf, gemeinsam ein bundesweit sichtbares Zeichen gegen Gewalt an Frauen zu setzen.
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