Im Kontakt bleiben oder Kontaktabbruch: Was ist besser für deine Heilung nach Trauma?
Kontaktabbruch zur Familie nach sexueller und/oder physischer Gewalt innerhalb der Familie, darüber scheiden sich die Geister. In meiner Social-Media-Blase häufen sich die Aufforderungen, dies nicht zu tun und lieber am Thema Vergebung zu arbeiten. Erst gestern begegnete es mir wieder auf Instagram. Meine beiden sehr von mir geschätzten Coach-Ausbilder:innen schreiben in ihrem Instagram-Beitrag darüber.
Gerade familiäre Kontaktabbrüche wirken sich auf unser Leben aus. Es ist ein systemisches Thema. Egal, wie sehr du Familienmitglieder nicht magst, sie gehören zu deinem System. Und wenn du sagst “nein”, gibt das ein Bruch im System. Dabei ist es wichtig zu bemerkten, dass wir damit uns selbst nichts Gutes tun. – Christina und Walter Hommelsheim
Auch mir wurde in meinen traumasensiblen Coachings diese Frage schon des Öfteren gestellt. Nur um es klar zu sagen: Ich kann diese Frage für niemanden beantworten, doch ich rate dir in dich hineinzuhören. Tue das, wovon du im Moment glaubst, dass es gut für dich ist. Nimm dich selbst ernst. Wäge ab, was sich für dich ändert, wenn du den Kontakt abbrichst und was sich ändern muss, wenn du den Kontakt nicht abbrichst. Es ist eine zutiefst individuelle Entscheidung. Fälle diese bitte nicht auf Basis von tollen Sätzen, die in der Social-Media-Welt kursieren.
Ein paar Worte zum Thema Vergebung und Familie
Wer meine Blogartikel kennt, weiß, dass ich vor über 35 Jahren den Kontakt zu meiner Ursprungs-Familie abgebrochen habe. Seit vielen Jahren beschäftige ich mich persönlich und professionell mit den Auswirkungen von sexueller und/oder physischer Gewalt innerhalb der Familie. Diese Generalisierungen im Sinne von „Vergib und du wirst gesunden“ nerven mich, weil ich sie für gefährlich halte. Familie kann ein „heiliger“ Ort sein, wenn die erwachsenen Familienmitglieder in der Lage sind, den hilflosen und bedürftigen Familienmitgliedern auf Augenhöhe zu begegnen. Keine Gewalt, keine Bevormundung, keine Bedingungen, die an Liebe geknüpft werden. Stattdessen Akzeptanz der jeweiligen Individualität und Bedürfnisse, gegenseitige Förderung von Wachstum und Freude. Dazu gehört auch die Neugier an der Unterschiedlichkeit. Jede:r darf sein wie er/sie ist und wird geliebt.
In den Familien, aus denen meine Klient:innen (und auch ich) stammen, ist häufig nicht viel bis nichts von dieser „Heiligkeit der Familie“ zu spüren. Im Gegenteil, oft geben Eltern und Großeltern ihre Traumata bewusst oder unbewusst weiter. Weil sie es nicht besser wussten, konnten und manche es vielleicht auch nicht anders wollten. Wenn du dich auf den Weg machst, die Trauma-Auswirkungen der erlittenen Gewalt für dich zu lösen, kann es sich an einer Stelle für dich gut anfühlen, vorläufig oder endgültig den Kontakt zu deiner Ursprungsfamilie abzubrechen. Dann ist es nicht hilfreich, an einem Familienbild festzuhalten, welches mit deiner Lebensrealität wenig zu tun hat. Vergebung ist aus meiner Sicht kein Allheilmittel und wenn überhaupt, solltest du zuallererst dir vergeben, für alles, was du dir vorwirfst. In diesem Beitrag geht es um meine persönliche Haltung und Sichtweise zu diesem Thema.
Hier findest du einen Beitrag mit hilfreichen Fragen, die du dir stellen kannst, wenn du vor dieser schwierigen Entscheidung stehst.
Warum ich Generalisierungen zum Thema Kontaktabbruch für gefährlich halte
Generalisierungen sind Aussagen oder Schlussfolgerungen, die eine spezifische Erfahrung oder Beobachtung auf eine breitere Gruppe oder Situation ausweiten, ohne ausreichende Beweise oder Berücksichtigung individueller Unterschiede. – Sylvia Tornau
Generalisierungen sind aus meiner Sicht gefährlich, weil sie Menschen über einen Kamm scheren. Wenn ich davon ausgehe, dass jedes Trauma eine individuelle Reaktion auf ein traumatisches Ereignis ist, dann ist kein Trauma mit einem anderen Trauma vergleichbar. Demzufolge ist auch der Weg der Aufarbeitung des Traumas und der Traumafolgestörungen individuell. Der „Verlust des Selbst“ (Gabor Mate) zeigt sich, in Dissoziationen, Süchten, Ängsten und sozialen Interaktionen – von Rückzug und Selbstzerstörung bis zu Gewalt und Zerstörung. Die Palette ist breit gefächert, weil es individuelle Reaktionen sind. Hier nur eine Option als Heilungsweg offenzulassen, kann ein Gefühl von Ausweglosigkeit hervorrufen. Im Kontakt mit den (ehemaligen) Peiniger:innen bleiben zu „müssen“, kann den eigenen Weg ausbremsen oder sabotieren. Überdies kann es auch lebensgefährlich sein, wenn diese noch immer gewalttätig sind.
Ein paar Mal wurden mir von wissenden Menschen – die ihr Wissen aus dem Internet bezogen haben, ungefragt Sätze in die Seele geträufelt. „Aber du musst vergeben, sonst kannst du nicht heilen“ oder „Wenn du dich von deiner Familie trennst, kannst du nicht heilen, weil du dich damit von dir selbst trennst.“ Reagierte ich darauf mit „Ich will aber nicht vergeben“ wurde ich nicht selten mit einem milden Lächeln bedacht, gefolgt von den Worten „Na dann bist du noch nicht so weit.“ Früher haben mich diese Sätze wütend gemacht, heute denke ich, wer vor anderen ausstellen muss, dass er/sie „schon so weit“ ist, kann nicht wirklich weit gekommen sein. Diese Person lebt vom Vergleich und braucht es sich gegenüber anderen zu erhöhen. Brauche ich wirklich den (meist ungebetenen) Ratschlag eines Menschen, der mit sich selbst bislang nicht im Reinen ist? Den brauche ich nicht und du auch nicht. Was wir brauchen, ist ein Gespür für uns selbst und dieser Intuition zu folgen, das ist ein Schritt Richtung Verbundenheit mit uns selbst und damit zur Heilung.
Es gibt nur einen richtigen Weg: deinen
Ich schreibe diesen Beitrag, weil ich dich ermutigen möchte, auf deine eigene Stimme zu hören. Niemand, wirklich niemand hat das Recht dir vorzuschreiben, was für dich gut und hilfreich ist. Vergebung und mit der Familie im Kontakt zu bleiben, kann ein Weg sein, es gibt aber auch noch viele andere Wege. Deinen eigenen Weg im Umgang mit deiner Familie zu finden, sollte dein Ziel sein. Egal, was andere sagen. Was sie denken, kann dir sowie egal sein, es sind ihre Gedanken. Deine eigenen Gedanken zu diesem Thema sind vermutlich verwirrend genug. Sollte dir jemand – Freund:in, Guru, Coach, Therapeut:in – erzählen, dass es nur einen einzigen Weg gibt, deine Traumata zu heilen, werde bitte misstrauisch. Bedanke dich freundlich bei der Person und zieh deiner Wege.
Du bist einzigartig und ebenso einzigartig wird dein Weg sein. Mag sein, es erscheint leichter, den Trampelpfaden einer anderen Person zu folgen. Doch dann verlässt du deinen eigenen Weg wieder. Vielleicht gehst du eine Extrameile, doch der Weg zur Heilung führt über die Verbundenheit mit dir selbst. Deine Traumata sind entstanden, weil andere dich nicht schützten und/oder dir traumatische Erfahrungen zumuteten. Dies zu akzeptieren ist ein erster Schritt, dir selbst Vertrauen zu schenken, ein zweiter. Dich selbst zu schützen und dir eine gute Freundin/ein guter Freund zu werden macht das Leben heller, leuchtender, weiter. Kein anderer Mensch kann dein Leben leben, also kann kein anderer dir sagen, was wirklich für dich gut und richtig ist. Das kannst nur du.
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Herzliche Grüße
Liebe Andrea, du sprichst einen wichtigen Aspekt an, der bei Kontaktabbruch häufig unterschätzt wird. Wenn ich die alten Wurzeln kappe, wirken sie trotzdem noch nach. Es ist so, wie Menschen es nach einer Amputation von Gliedmaßen beschreiben, manchmal taucht da ein Phantomschmerz auf, der sich anfühlt, als wäre der Zeh, das Bein, der Arm noch da. Der Kontaktabbruch bei mir war notwendig, um mich nicht immer neu verletzen zu lassen. Der Kontaktabbruch als solcher ist eben noch keine Heilung, aber war für mich ein wichtiger Schritt dahin, dass ich mich in Ruhe, ohne permanent zurückgeworfen zu werden, meinen Prozessen widmen konnte. Liebe Grüße Sylvia
Liebe Ayopa, Danke für deine Rückmeldung, die mich sehr darin bestärkt, meinen Weg weiterzugehen. Schritt für Schritt, der eigenen Intuition folgend. LG Sylvia
Liebe Sylvia,
ich war schon bei den ersten Zeilen ganz bei dir! Und halte eine generelle Aussage für jemand anderen als uns selbst für nicht tragbar. Weder habe ich als Mitmensch noch als Therapeutin das Recht meine Patient:innen „Ratschläge“ zu geben und für sie zu entscheiden, bzw. generell zu entscheiden, ob Ja oder Nein zu einem Kontaktabbruch! Diese Wahl hat unglaublich viele Faktoren und ja, natürlich ist das ein systemisches Thema. Selbst wenn der Kontaktabbruch rein örtlich vollzogen ist, so bleibt (mehr oder minder) eine Verbundenheit. Und ob diese nun erwünscht ist oder nicht, wirken die Erlebnisse ohnehin nach, über Jahre und Jahrzehnte.
Auch ich spreche heute aus eigener Erfahrung. Meine Mutter ist inzwischen seit 11 Jahren verstorben und davor bin ich viele Jahre zuvor 420 KM weit weg gezogen…es reicht bis heute nicht. Auch nicht für völlige Vergebung. Denn genau wie du, ist auch Vergebung für mich kein Allheilmittel. Es ist ein Prozess und maybe werde ich in dem Leben mit diesem noch nicht ganz fertig, wer weiß das schon.
Therapieverfahren – egal welche oder Tools, egal welche, sind keine Allheilmittel. Einst meinte eine Psychoanalytikerin…Sie kennen doch die Ursache des Problems, warum ist es denn dann jetzt nicht gut?
Lasse ich mal so stehen und danke dir für diesen wertvollen und mutigen Beitrag, wenn deine Bubble so auftritt, wie du beschreibst.
Liebe Grüße Andrea
Danke für deine ganz besondere Haltung aus Authentizität und Professionalität. Endlich für mich selbst eine Wahl zu haben, statt einer Vergebungsattitüde zu folgen, weil das der einzige Weg sein soll. Meinen Weg zu finden ist viel heilsamer für mich und am besten mit einer kundigen Begleitung, die mich auf meinem Weg unterstützt.