Lyrik von anderen

Lyrik von anderen ist eine Sammlung von Gedichten, die mich berührt und zum fühlenden Denken verführt haben.

Lyrik von anderen – 1 Rainer Maria Rilke

Über die Geduld

Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…

Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.

Er kommt doch!

Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…

Man muss Geduld haben

Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.

Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.

Lyrik von anderen – 2 Rose Ausländer

Dornen

Wir haben Rosen
gepflanzt
es wurden Dornen
Der Gärtner
tröstet uns
die Rosen schlafen
man muß auch
seine
Dornenzeit lieben.

Lyrik von anderen – 3 Mascha Kaléko

Sozusagen grundlos vergnügt

Ich freu mich, dass am Himmel Wolken ziehen und dass es regnet, hagelt, stürmt und schneit.
Ich freu mich auch zur grünen Jahreszeit wenn Heckenrosen und Holunder blühen.
Dass Amseln flöten und Bienen summen, dass Mücken stechen und Brummer brummen.
Dass rote Luftballons ins Blaue steigen, dass Spatzen schwatzen und dass Fische schweigen.
Ich freu mich, dass der Mond am Himmel steht und dass die Sonne täglich neu aufgeht.
Dass Herbst dem Sommer folgt und Lenz dem Winter gefällt mir wohl, da steht ein Sinn dahinter, auch wenn die Neunmalklugen ihn nicht sehn, man kann nicht alles mit dem Kopf verstehn.

Ich freu mich, das ist des Lebens Sinn, ich freu mich vor allem, dass ich bin.
In mir ist alles aufgeräumt und heiter, die Deele blitzt, das Feuer ist geschürt, an solchen Tagen erklettert man die Leiter, die von der Erde in den Himmel führt.
Da kann der Mensch, wie es ihm vorgeschrieben, weil er sich selber liebt, den Nächsten lieben.
Ich freu mich, dass ich mich an das Schöne und an das Wunder niemals ganz gewöhne.
Dass alles so erstaunlich bleibt und neu.
Ich freu mich, dass ich,
dass ich mich freu.

Lyrik von anderen – 4 Judith Faller

abschied nehmen

habe mir am granit
der grünschwarzen härte
des abschieds
die zähne ausgebissen

dabei

wäre es ein leichtes
durch die offene türe
gelassen
den fluss des vergehens
zu betrachten

Lyrik von anderen – 5 Ingeborg Bachmann

FALL AB, HERZ

Fall ab, Herz, vom Baum der Zeit,
fallt ihr Blätter, aus den erkalteten Ästen,
die einst die Sonne umarmt‘,
fallt, wie Tränen fallen aus dem geweiteten Aug!

Fliegt noch die Locke tagelang im Wind
um des Landgotts gebräunte Stirn,
unter dem Hemd presst die Faust
schon die klaffende Wunde.

Drum sei hart, wenn der zarte Rücken der Wolken
sich dir noch einmal beugt,
nimm es für nichts, wenn der Hymmettos die Waben
dir noch einmal füllt.

Denn wenig gilt dem Landmann ein Halm in der Dürre,
wenig ein Sommer vor unserem großen Geschlecht.

Und was bezeugt schon dein Herz?
Zwischen gestern und morgen schwingt es,
lautlos und fremd,
und was es schlägt,
ist schon sein Fall in der Zeit.

Lyrik von anderen – 6 Bärbel Klässner

Frau in der küche

Ob ich das bin? gebildet oder bebildert mit fremder ansicht ach
die verbannung macht müde das sternennetz verkehrt über
mein schreibheft gebreitet die marmorierten deckel aus pappe
zwischen denen meine zahnlosen briefe vegetieren die
ameisenstraßen führen zum äquator ich folge mit dem finger
nur den täglichkeiten noch fahre den kaffee hoch öffne das brot
lade das gedächtnis als neue version vielleicht ist es längst
unter den stapeln verschollen in den hin und her sortierten
papieren aus amtspost werbung unerledigtem gedicht sag mir
doch bitte ist es zu spät wenn ich einmal noch einer
verschwendung gleich käme in blüte stünden alle ideen
betörend und verstörend die frau die fundevogel noch kennt
eine ausgeschnittene fortsetzung aber ist das herz an ritter
ohneland verloren nun also halsstarrig zur sonne geschaut vom
fenster geviertelt an die uhr geklebt die blanken lücken im
kalender in der ecke eine lustlose spinne hingehängt ob ich das
bin was gibt es zu sagen morgen stärke ich das handtuch
schnüre den mut mich auszuwerfen ins weite

Lyrik von anderen – 7 Else Lasker-Schüler

Das Lied meines Lebens

Sieh in mein verwandertes Gesich …
Tiefer beugen sich die Sterne.
Sie in mein verwandertes Gesicht.

Alle meine Blumenwege
Führen auf dunkle Gewässer,
Geschwister, die sich tödlich stritten.

Greise sind die Sterne geworden …
Sieh in mein verwandertes Gesicht.

Lyrik von anderen – 8 Angela Krauß

Auch die Liebe 

Auch die Liebe
beruht auf Vermutungen
und der vagen Erinnerung
an einen ähnlichen Fall
vor abertausend Jahren,
dessen Abdruck
in eine Seele geprägt wurde
wie die Tatze eines jungen Bären,
derb, verspielt, mutwillig, verletzend.

Auch die Liebe
hebt Fremdheit nicht auf
und die Ahnung,
sie könnte für immer bleiben,
um noch tiefer erfahren zu werden
durch die Liebe,
tief genug,
dass alles Bittere sich verflüchtigt
und von der Fremdheit nur bleibt,
was ganz am Anfang war:
Fülle aus Licht,
blindes Vertrauen,
nackte Vermutung.

Lyrik von anderen – 9 Stefanie Jerz

Gänseblümchen

sie liebt mich
er liebt mich nicht
du liebst ich
mich liebst du nicht
lieb du mich
nein besser nicht
wie lieb ich
und wieder nicht
verlieb dich
nur nicht in mich
erst lieb dich
und dann auch mich

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Hallo, ich bin Sylvia

systemische Therapeutin, Trauma-Coach und Bloggerin. Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Paaren, Familien und Einzelpersonen daran, negative Kindheitsprägungen und frühe Traumata zu lösen und ein Leben voller Selbstvertrauen, innerem Frieden und emotionaler Stabilität zu führen.
Für ein erfülltes Leben in Verbundenheit.

Quietschfidel Wolken schaufeln
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