Eine Anleitung zu emotionaler Selbstregulation
Im Zusammenleben mit anderen, bei der Arbeit, im Kontakt mit Kolleg:innen, aber auch für uns allein ist die Fähigkeit zu emotionaler Selbstregulation eine Notwendigkeit. Wir alle kennen sie, die Menschen, die mitunter aus für uns nicht erklärlichen Gründen aus der Haut fahren, die vollkommen außer sich sind und niemand kann so richtig nachvollziehen, warum das so ist. Vielleicht geht es dir manchmal selbst so und wenn du dich wieder beruhigt hast, ist dir dein Verhalten peinlich oder unangenehm und du würdest am liebsten zurücknehmen, was du der anderen Person – hoffentlich nur verbal – an den Kopf geknallt und vor die Füße gespuckt hast. Sind an solch eruptiven Ausbrüchen auch bei dir schon Beziehungen, Freundschaften auseinandergebrochen? Oder liegst du auch ständig mit dir selbst im Clinch und fühlst dich deinen Emotionen ausgeliefert? Dann wird es Zeit, dass du dich dem Thema emotionale Selbstregulation widmest.
Was ist emotionale Selbstregulation?
Emotionale Selbstregulation ist die Fähigkeit, die eigene Wahrnehmung, die Gefühle und deren auslösende Gedanken und somit unser Verhalten zu steuern. Eine Fähigkeit, die Kinder bis zum dritten Lebensjahr erlernen.
Nur was ist, wenn die Personen, von denen wir dies lernen könnten, selbst nicht dazu in der Lage waren? Wenn wir von ihnen eher erlernt haben, dass Gefühle einen mitreißen und sie einfach so herausplatzen, egal welche Konsequenzen / Verletzungen das für mich selbst oder für andere hat? Dann ist es an uns, den Umgang mit unseren Gefühlen auf eine für uns und unsere Umwelt gute Weise zu erlernen.
Ob es sich um Ängste, Zorn, Traumata oder andere Stressfaktoren handelt, die Kontrolle über unsere emotionale Reaktion kann entscheidend sein, um unsere psychische Gesundheit und das allgemeine Wohlbefinden zu bewahren. Die emotionale Selbstregulation ist deshalb entscheidendes Instrument für ein ausgeglicheneres und gesünderes Leben. Manchmal kann eine Traumatherapie oder ein Coaching sehr hilfreich sein, anderes können wir definitiv selbst dafür tun, dass unsere Gefühle zu meistern. In diesem Beitrag gebe ich dir eine 7-Schritte-Anleitung an die Hand, die dir helfen wird, emotional intelligenter zu werden und deine Emotionen besser zu kontrollieren.
Anleitung zur emotionalen Selbstregulation
Diese Anleitung ist kein Therapieersatz! Gerade bei Entwicklungs-Traumata, erlebter Gewalt in der Kindheit oder emotionaler Vernachlässigung kann es sein, dass unser Nervensystem sich nicht so entwickeln konnte, wie es notwendig ist, für einen guten Umgang mit Emotionen. Hier kann es hilfreich sein, zum Erlernen von emotionaler Selbstregulation, ein Gegenüber haben (Therapeutin / Coach), welches sich selbst regulieren kann und beruhigend auf uns wirkt. Das heißt dann Co-Regulation (dazu werde ich in einem anderen Beitrag mehr schreiben). Emotionale Selbstregulation geht weit über bloßes kognitives Verstehen hinaus.
Diese 7-Schritte-Anleitung soll dir helfen, die Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen im Alltag zu trainieren. Denn der Umgang mit den eigenen Emotionen braucht Training. Für manche von uns ist es leichter, eine Fremdsprache zu erlernen, als die eigenen Gefühle zu steuern. Deshalb ist es wichtig, dich nicht nur in emotional kritischen Situationen mit dem Thema zu befassen, sondern dich zu trainieren. Je mehr du trainierst, desto funktioniert es dann mit der Steuerung deiner Emotionen in kritischen Momenten.
Schritt 1: Achtsamkeit entwickeln
Der erste Schritt zur emotionalen Selbstregulation ist die Fähigkeit, deine eigenen emotionalen Zustände zu erkennen. Hier gilt es, den Fokus auf dich selbst zu richten. Unser Nervensystem reagiert auf Reize von außen und innen. Manchmal wird es von Reizen geradezu überflutet. Wenn du in der Lage bist, diese Reize wahrzunehmen, ist dies der erste Schritt, deine Reaktion darauf zu steuern. Achtsamkeit bedeutet, im Hier und Jetzt präsent zu sein. Achtsam sein ist eine innere Haltung, die kannst du kultivieren und trainieren. Bei der Achtsamkeit geht es darum, die unmittelbare Erfahrung, als das, was jetzt gerade ist, wahrzunehmen, und zwar bevor es von unseren Gedanken, Bewertungen und automatischen Reaktionen überlagert wird. Da unser Nervensystem in unserem Körper verwoben ist, bedeutet Achtsamkeit entwickeln in Bezug auf emotionale Selbstregulation in erster Linie festzustellen, was eigentlich in deinem Körper los ist.
Trainiere die Achtsamkeit deiner Sinne
Der einfachste Weg zu mehr Achtsamkeit führt über die Wahrnehmung der Sinne – riechen, schmecken, hören, tasten, sehen. Dies kannst du ganz einfach in deinen Alltag einbauen. Wie fühlt es sich an, morgens den ersten Schritt zu machen, wenn du gerade aufgestanden bist? Wie schmeckt der erste Kaffee, den du trinkst? Wenn du in der Mittagspause kurz in den Park gehst, dich auf eine Bank setzt und lauschst, was hörst du? Was spürst du, wenn du nach Hause kommst und den BH durch den Ärmel deines T-Shirts fädelst? Wie fühlt es sich an, wenn du deinen Arm streichelst? Was siehst du auf dem Weg zur Bushaltestelle? Mit diesen Beobachtungen, kleinen Achtsamkeitsübungen, lenkst du den Fokus deiner Aufmerksamkeit von außen nach innen. Du beobachtest einfach, wie dein Körper auf diese äußeren Reize reagiert. Sobald du bemerkst, dass du anfängst zu bewerten, konzentriere dich auf etwas anderes.
Beobachte die Reaktionen deines Körpers
Auch bei dieser Übung gilt es, die Reaktionen deines Körpers, wie Weinen, Lachen, Verkrampfungen, Zittern, Kribbeln, Wärme- und Kälteempfinden, Unruhe etc. wahrzunehmen. Fühlst du dich entspannt oder angespannt? Geht dein Atem flach und hektisch oder ist er tief und ruhig? Spürst du irgendwo im Körper einen Druck? Grummelt der Bauch? Ist es eng im Hals? Mit welcher Körperhaltung gehst du durchs Leben? Aufrecht oder mit krummen Rücken? Schaust du auf der Straße andere Menschen an oder ist dein Blick eher auf den Boden gerichtet? All das sind kurze Fragen, die du dir im Alltag stellen kannst. Egal, ob du gerade an der Supermarktkasse stehst oder im Büro am Kaffeeautomaten. Auch bei dieser Übung geht es um die reine Beobachtung. Es gilt: sobald du anfängst zu bewerten, lenkst du deinen Fokus weg vom hier und jetzt.
Noch intensiver trainierst du deine Achtsamkeit und damit deine emotionale Selbstregulation, wenn du dir zu Hause mehr Zeit dafür nimmst. Es muss ja nicht täglich eine Stunde sein, aber regelmäßig 5-30 Minuten schulen deine Achtsamkeit um ein Vielfaches. Möglichkeiten, diese Achtsamkeit zu entwickeln, gibt es viele, bspw.:
- Meditation
- Atemtechniken
- Bodyscan
- Raumscan
- 5-Minuten-bewusstes-Nichtstun
Schritt 2: Deutung von Gefühlen
Nach der Wahrnehmung deiner Gefühle ist es wichtig, diese einzuordnen. Dazu ist es wichtig zu wissen, dass Gefühle affektgesteuert sind, unser Verhalten und Denken beeinflussen und von diesem beeinflusst werden. Der nächste Schritt besteht also darin, zu lernen, deine Gefühle richtig zu interpretieren und die Ursachen deiner Emotionen zu analysieren. Während du bei den Achtsamkeitsübungen eher auf deine körperliche Verfassung, deine Körperreaktionen achtest, geht es jetzt darum, dich genauer zu befragen. Warum bin ich an dieser Stelle verkrampft? Warum ist es in meiner Brust eng? Welches Gefühl verbirgt sich hinter dieser Körperreaktion?
Lerne die Zeichen deines Körpers zu deuten
Hier geht es ganz konkrete Gefühle wie Traurigkeit, Fröhlichkeit, Wut, Angst, Freude, Schmerzempfinden. Es ist ein wenig detektivisches Gespür gefragt. Gestatte dir einfach eine Portion Neugier auf dich selbst! Lerne durch Beobachtung, die Hinweise, die dein Körper dir gibt, zu deuten. Schlägt dein Herz schneller, wenn du Angst hast? Spannt sich dein Körper an und fühlt sich heiß, wenn du wütend bist? Werden deine Bewegungen ganz langsam und hast du das Gefühl von Schwere auf dem Rücken, wenn du erschöpft bist? Wenn du lernst, die Reaktionen deines Körpers zu erkennen, kannst du sie deinen Emotionen besser zuordnen. Das hilft dir, auf diese Gefühle zu reagieren und du hast die Chance, sie zu kontrollieren, bevor sie die Kontrolle über dich übernehmen.
Nimm wahr und hinterfrage
Es geht darum, dich zu befragen. Du musst an dieser Stelle nicht in das Gefühl hineingehen, es sich ausbreiten lassen. In diesem 2. Schritt zu emotionaler Selbstregulation, geht es erst einmal darum herauszufinden, was du fühlst und was die Ursache für dieses Gefühl ist. Anhand einiger Beispiele zeige ich dir mögliche Fragen:
- Ich spüre Druck auf dem Kopf. Was für ein Gefühl könnte sich dahinter verbergen? Kopfschmerz. Warum habe ich Schmerzen im Kopf? Weil ich mich heute den ganzen Tag extrem anstrengen musste, um mich zu konzentrieren. Meine Kollegin hat ununterbrochen geredet und ich musste das Projekt abschließen. Wie habe ich mich dabei gefühlt? Ich war wütend auf sie, weil sie nicht gemerkt hat, wie sehr mich das stört.
- Mein Hals ist wie zugeschnürt. Was für ein Gefühl verbirgt sich dahinter? Wut. Warum bin ich wütend? Ich hatte mir ganz fest vorgenommen, diesmal „nein“ zu sagen, wenn die Chefin mir wieder zu einem zusätzlichen Dienst verhilft. Auf wen bin ich wütend? Auf die Chefin, weil sie immer zu mir kommt, wenn alle anderen ablehnen, aber auch auf mich. Weil ich wieder „Ja“ gesagt habe, obwohl ich Karten fürs Theater habe.
- Mein Bauch ist verkrampft. Was könnte sich für ein Gefühl dahinter verbergen? Ich habe Angst. Warum habe ich Angst? Mein Freund hat sich drei Tage nicht bei mir gemeldet. Als wir uns das letzte Mal gesehen haben, sind wir im Streit auseinandergegangen.
Natürlich kann sich hinter einer Körperreaktion auch etwas anderes verbergen. Du hast z.B. Kopfschmerzen, weil es draußen heiß ist und du zu wenig Wasser getrunken hast, dein Bauch ist verkrampft, weil du etwas gegessen, aber nicht vertragen hast.
Schritt 3: Akzeptiere was ist
In Schritt 3 zur emotionalen Selbstregulation, spielt es keine Rolle, welche Emotionen du hinter deinen Körperreaktionen erkennst. Wichtig ist, dass du sie erkennst. Es spielt auch erst einmal keine Rolle, warum dieses Gefühl in dir ist. Wirklich wichtig ist, dies alles überhaupt einmal wahrzunehmen. In diesem Schritt geht es darum, anzuerkennen, also zu akzeptieren, was da ist und warum es da ist. Vielleicht zuckst du jetzt zusammen, wenn du das Wort „Akzeptanz“ liest und denkst ‚Ich möchte aber nichts akzeptieren, was mir nicht gefällt!‘. Dann gehörst du vielleicht zu den Menschen, die akzeptieren mit hinnehmen verwechseln.
Was ist Akzeptanz
Akzeptanz bedeutet, dass du das, was ist, erst einmal wertungsfrei annimmst. Sie ist eine wesentliche Grundlage für erfolgreiche Veränderung. Erst das ungeschönte Anerkennen von Umständen und Sachverhalten, ungeschönt im Sinne von so, wie sie in der Realität vorliegen, ist Akzeptanz. Es geht darum, genau hinzusehen. Nichts weglassen, nichts dazudichten und vor allem, nicht bewerten, was da so ist, wie es ist.
Viele Menschen fürchten sich davor, ihre Probleme, ihre Unzulänglichkeiten oder ihre Emotionen so zu sehen und anzunehmen, wie sie wirklich sind. Gerade in unserem Kulturkreis sind wir darauf programmiert, uns vor anderen und vor uns selbst in einem guten Licht darzustellen. Unangenehmes oder gar schmerzhaftes gehört nicht in das von Weichzeichnern und Filtern verschönte Bild, welches wir von uns haben, abgeben wollen. Lieber ignorieren wir, was nicht ins Bild passt, oder lenken uns davon ab. Wir basteln uns dann ein Leben, welches aussieht wie eine Collage mit perfekten Bildern aus Hochglanzmagazinen. Nur dort, wo sich die Bilder überlappen, setzt sich mit der Zeit Staub rein und dann sind wir permanent damit beschäftigt, die Collage zu glätten und putzen, um diese kleinen Dreckflecken zu überdecken.
Akzeptanz lernst du, in dem du beobachtest ohne zu bewerten
Stell dir vor, du hast Geburtstag und bekommst von deiner Freundin eine Kette geschenkt. Ohne die Beobachtungsinstanz in dir, kreischst du im besten Fall vor Begeisterung los, weil du die Kette siehst und sie dir gefällt. Dass sie dir gefällt, ist die Bewertung. Im nicht so positiven Fall bedankst du dich artig bei deiner Freundin, doch du ignorierst sie den ganzen Abend. Spaß an deiner Feier hast du auch nicht mehr, weil du dich ärgerst: So ein blödes Geschenk, sie weiß doch ganz genau, dass ich keinen Goldschmuck mag!
Um deine Gäste nicht mit deinem begeisterten Gebrüll zu verschrecken oder um dir und deiner Freundin nicht den Abend zu versauen, könntest du dir in diesem Fall erst einmal wertungsfrei sagen: ‚Ah, Carolin schenkt mir eine Kette.‘ Ob dir die Kette gefällt oder nicht gefällt, spielt dabei keine Rolle. Fakt ist: Carolin hat dir eine Kette geschenkt. Genauso kannst du dir deine Emotionen anschauen. ‚Ah, ich habe Wut, weil die Chefin wieder mich gefragt hat und ich nicht ‚Nein‘ gesagt habe. Damit sagst du nicht, ob du das gut oder schlecht findest, du stellst es erst einmal nur fest. ‚Ah, so ist es.‘
Wichtig ist, dass du dir klarmachst, dass alle Gefühle, auch die, die du als negativ bewertest, Teil von uns sind. Sie gehören zu unserem Menschsein, so wie unsere Organe oder Arme und Beine. Sie zu akzeptieren, anstatt sie zu verleugnen oder zu unterdrücken, ist ein grundlegender Schritt in der emotionalen Selbstregulation.
Schritt 4: Erkenne negative Gedanken
In diesem Schritt darfst du endlich alle ‚Aber‘, die da in dir sind, erkennen, zulassen und herauslassen. Das ist ein wichtiger Schritt, denn meist werden negative Gefühle durch negative Gedankenmuster ausgelöst. Vorher erläutere ich dir noch kurz, was deine Gedanken eigentlich zu negativen Gedanken macht. Zu benennen sind hier erst einmal die Favoriten: Selbstzweifel, Sorgen, negative Selbstgespräche, seine Erwartungen, limitierende Glaubenssätze, die Vergangenheit nicht loslassen, Vergleiche mit anderen, die Meinung anderer. Mir geht es hier nicht darum, aus negativen Gefühlen positive Gefühle zu machen. Das würde nicht klappen und dich nur stressen, denn negative Gedanken, liegen in unserer Natur. Das hängt mit unserer Evolutionsbiologie zusammen.
Unser Gehirn ist darauf programmiert, negative Gedanken zu denken.
Unsere Vorfahren waren täglich realen Gefahren ausgesetzt – Hunger, Kälte, menschliche und tierische Feinde, die ihnen nach dem Leben trachteten. Auf eine Reise zu gehen, ohne für mögliche Gefahren / Witterungsumschläge gewappnet zu sein oder im Wald auf Geräusche nicht zu reagieren, hätte tödlich enden können. Das heißt, unsere Vorfahren kannten die Gefahren und mussten jederzeit damit rechnen, einer zu begegnen. Sie sorgten sich, gingen vom Schlimmsten aus und deshalb waren sie wachsam. Das sicherte ihr Überleben. Mit jeder Generation, die folgte, entwickelte das menschliche Gehirn diese Fähigkeit, Gefahren zu erkennen, weiter. Unser Gehirn ist darauf programmiert, negativ zu denken. Deshalb ist es müßig, dich selbst damit zu stressen, dass diese Gedanken nicht da sein dürfen. Sie sind da.
Übrigens: Indem du deine emotionale Selbstregulation trainierst, hilfst du dir, deinem persönlichen Umfeld und vielleicht sogar späteren Generationen, in dem du hilfst, das Gehirn des Menschen auf die moderne Zeit einzuschwingen, in der nicht hinter jedem Busch eine potenzielle Gefahr lauert.
Gib deinen negativen Gedanken Raum
An dieser Stelle folgt ein Schritt, der dich vielleicht irritiert. Schreibe deine negativen Gedanken auf, denn auch quälende Gedanken wollen gehört werden. Nimm ein Schreibheft, welches du genau dafür nutzt. Egal, wie schrecklich du sie findest, lass sie aufs Papier. Sie rumoren ja doch in dir. Beschreibe deine Gefühlslage, nutze Adjektive und Vergleiche, suche Bilder, die das Gefühl beschreiben. Dramatisiere, mach all das, was du dich nie trauen würdest auszusprechen. Da sind Schimpfwörter in dir? Schreib sie auf. Lass alles raus, egal, wie drastisch die Sprache ist, die du wählst. Dies ist kein Text, den du anderen zu lesen gibst und auch du selbst solltest dir das Geschriebene nicht wieder anschauen. Aber einmal muss es Raum bekommen und den gibst du, während du es aufschreibst. Du befreist sie damit aus deinem Kopfgefängnis und schaffst gleichzeitig Ruhe und Ordnung in deinem Kopf.
Schritt 5: Selbstfürsorge nicht vergessen!
Selbstfürsorge ist nicht wirklich ein Schritt in dieser Liste. Sie ist eher so etwas wie der alles umfassende Rahmen der emotionalen Selbstregulation. Doch finde ich es genau an dieser Stelle, nachdem du all die negativen Gedanken auf dem Papier freigelassen hast, wichtig, darauf zu verweisen. Die Beschäftigung mit der eigenen Wahrnehmung, deinen Körperreaktionen und Gefühlen, der Prozess der Akzeptanz und vor allem das ehrliche, ungeschminkte Herauslassen deiner negativen Gedanken, sind Herausforderungen, die anstrengend sind und dich vielleicht sogar stressen. Deshalb halte schreibe ich dir hier ein paar Übungen auf, die dir helfen sollen, deinen Körper und deinen Geist wieder in Balance zu bringen, was ja einer der Hauptgründe dafür ist, warum ich diesen Blogbeitrag schreibe. Deine Kenntnis der Basisaspekte von Selbstfürsorge – wie ausreichenden Schlaf, gesunde Ernährung, Bewegung und Pflege sozialer Kontakte – setze ich an dieser Stelle einfach voraus.
Übung zur Beruhigung
Mit dieser Übung entspannst du deinen Augennerv und deine Gesichtsmuskeln. Das wirkt sich auf den gesamten Körper aus. Die Übung nimmt ca. 3 Minuten in Anspruch.
- Halte deine Hände so vor die Augen, dass kein Licht hereindringt.
- Atme tief ein, sodass sich dein Bauch wölbt (Bauchatmung). Halte die Luft an und atme langsam aus. Wiederhole das drei bis fünf Mal.
- Schaue in die Dunkelheit deiner Handfläche, bis alle hellen Flecken und Lichtblitze aufhören.
- Jetzt ziehe Grimassen, aber behalte dabei die Hände vor dem Gesicht.
- Schließe die Augen und löse die Hände von den Augen. So gewöhnen sie sich langsam wieder an Licht.
- Massiere, mit geschlossenen Augen, deinen Nacken kräftig durch.
- Gähne einmal herzhaft, am besten mit Geräusch und öffne deine Augen.
Schütteln und drehen
Diese Übung ist hilfreich, wenn du in Gedanken, Sorgen oder Arbeit feststeckst. Achte darauf, auch deine Körpermitte zu bewegen, dann fühlst du dich schnell kraftvoller und lebendiger. Du kannst du dir gern eine Uhr stellen, denn mir macht sie so viel Spaß, dass ich manchmal die Zeit darüber vergesse. Dauer ca. 5 Minuten oder solange es dir Freude macht.
- Lockere deine Schultern und deinen Oberkörper für ca. 1 Minute mit drehenden, kräftigen Bewegungen in alle Richtungen.
- Stell dich gerade hin und beginne ganz locker auf der Stelle zu hüpfen. Fang mit den Händen an zu schütteln, steigere über die Arme, die Schultern, den Rücken und bewege die Taille dabei, bis du gleichzeitig alle Körperpartien bewegst. Lass deinen Körper für ca. 1 Minute vibrieren.
- Wenn der Körper wieder stillsteht, kreise langsam für 1 Minute den Kopf von links nach rechts.
- Wiederhole mit einer neuen Runde hüpfen und schütteln.
- Im Anschluss lässt du den Kopf langsam von rechts nach links kreisen.
- Zum Abschluss: Einmal kräftig nach oben strecken und dehnen und dabei herzhaft und geräuschvoll gähnen.
Bitte Lachen
Diese Übung gibt es in 2 Varianten. Variante 1 ist meine Lieblingsübung, die ich allerdings nur mache, wenn ich allein im Auto unterwegs bin. Variante 2 funktioniert auch in der Besenkammer, beim Kochen, auf Toilette. Beide Übungen treffen den Nerv, zwischen Auge und Wange, der unserem Gehirn positive Stimmung signalisiert, auch wenn das Lächeln / Lachen gekünstelt ist.
Variante 1
Dauer: 2-10 Minuten (eigener Erfahrungswert)
- Hole tief Luft und beim Ausatmen sagst du so laut du kannst „Ha“ und verziehst dabei dein Gesicht so, wie du es bei Lachen machst.
- Hole tief Luft und beim Ausatmen sagst du so laut du kannst „HaHA“
- Hole tief Luft und beim Ausatmen sagst du so laut du kannst „HaHAHA“
- Wiederhole dies mindestens 12 Mal.
Ich persönlich schaffe nicht mehr als 8-10 Mal, dann habe ich meist einen richtig befreienden Lachflash. Funktioniert nur, wenn du dir erlaubst, so richtig albern zu sein und dich dabei doof zu fühlen, weil es albern ist.
Variante 2
Dauer: 3 Minuten
- Verzieh deine Gesichtsmuskeln zu einem Lächeln.
- Halte dieses Grinsen mindestens eine Minute lang.
- Lass deine Gesichtsmuskeln wieder locker.
- Wiederhole das Ganze mindestens dreimal.
Schritt 6: Hör auf, dich mit deinen Gedanken zu identifizieren
Ein Gedanke ist ein Gedanke, ist ein Gedanke. (Danke an Gertrude Stein für ihre berühmte Tautologie.) Soll heißen, ein Gedanke ist einfach nur ein Gedanke. Und wenn er nichts anderes ist als das, dann kann er nicht das Problem sein. Wenn das, was du denkst, aber nicht das Problem ist, was ist es dann? Es ist die Bedeutung, die wir unseren Gedanken geben. In der westlichen Kultur sind wir mit dem Spruch von René Descartes „Ich denke, also bin ich“ aufgewachsen. Dem Denken geben wir Vorrang vor allem anderen und sind so auf den Verstand fixiert, dass wir unsere Gedanken für die Wahrheit halten, uns mit ihnen identifizieren. Wir glauben unseren Gedanken und gehen dabei mitunter so weit, dass wir denken, wir sind unsere Gedanken.
Wer entscheidet, ob ein Gedanke für dich wahr oder bedeutsam ist
Doch ein Gedanke ist nur ein Gedanke. Ich bin mehr als ein Gedanke und meine Gedanken sprechen nicht die Wahrheit. Ich kann denken, ich sei Lara Croft oder Steinreich, aber beides entspricht nicht der Realität. Die Realität ist überprüfbar. Der Blick in den Spiegel, der Test meines sportlichen Durchhaltevermögens beweist mir: Ich bin nicht Lara Croft. Und spätestens der Blick auf den nächsten Kontoauszug beweist, dass ich nicht steinreich bin. Wobei, hier kommt es auf die Definition der Steine an. Von meinen Reisen habe ich viele Steine mitgebracht, also reich an Steinen bin ich. Überprüfbar!
Es ist wichtig, dass du entscheiden kannst, ob du deinen Gedanken glaubst oder nicht. Du entscheidest, ob er der Wahrheit entspricht oder nicht. Ob er die Wahrheit beinhaltet – dann ist der Sachverhalt deines Gedanken so wie er ist, niemand kann daran rütteln, es gibt nichts, was ihn widerlegen kann (bis dann doch jemand vorbeikommt, der/die es kann) – oder ob er deine Wahrheit beinhaltet, die sich von der eines anderen Menschen unterscheidet. Frag mal zwei Menschen, die vor Jahren gemeinsam einen Urlaub erlebt haben, nach ihren Erlebnissen. Du wirst zwei vollkommen unterschiedliche Geschichten hören, in denen sich vielleicht ein paar Ortsangaben gleichen.
Was heißt das jetzt für dich und die emotionale Selbstregulation?
Wie oben schon erwähnt, gibt es ein Wechselspiel der Beeinflussung zwischen unseren Gedanken und unseren Gefühlen. Ein negatives Gefühl hat Auswirkungen auf meine Gedanken. Mein Körper ist verspannt, ich fühle mich unruhig und gestresst – meine Gedanken drehen sich um all das, was ich glaube, unbedingt noch erledigen zu müssen. Ich denke, ich kann nicht schreiben und während ich das über mich denke, werde ich traurig oder wütend über mich, weil ich doch schreiben will.
Das, was du denkst, sind häufig nur Annahmen, Bilder und Geschichten in deinem Kopf sind und diese entsprechen nicht der Realität. Es sind Meinungen, die du dir gebildet hast, über dich, über andere, über die Politik, das Klima, die Mathematik, what ever. Deshalb lautet mein wichtigster Tipp an dich: Glaube dir nicht alles, was du denkst. Das ist einer der entscheidenden Schritte zur emotionalen Selbstregulation. Wie das geht? Durch Beobachten. Beobachte deine bewussten, negativen Gedanken. Du beobachtest sie, ohne sie zu verurteilen, zu bewerten und dabei denkst du: ‚Ah, so denke ich darüber.‘ Damit schaffst du eine Distanz zwischen dir und deinen Gedanken und hörst auf, dich damit zu identifizieren.
Es geht nicht darum, deine Gedanken zu ändern, transformieren und bewerten, es geht darum, mit ihnen zu leben und eine Wahl zu treffen. Welcher Gedanke ist für mich hilfreich und welcher nicht. Wenn etwas in dir denkt: ‚Kochen kann ich nicht‘, dann weißt du, wenn du deine Gedanken beobachtest, dass etwas in dir denkt, du kannst das nicht kochen. Du weißt auch, dass du noch nie gekocht hast oder dir kochen einfach keinen Spaß macht. Das heißt, du kannst entscheiden, ob es dir wichtig ist kochen zu können oder nicht und wenn es dir wichtig ist, kannst überlegen, was du brauchst, um es mal zu probieren. Ist es dir nicht wichtig, dann vergiss es einfach wieder. Dan war es nur ein Gedanke, der mal kurz ‚Hallo‘ gesagt hat.
Weitere Möglichkeiten für den Umgang mit negativen Gedanken
Der Vollständigkeit halber nenne ich dir hier noch ein paar weitere Möglichkeiten, wie du mit negativen Gedanken umgehen kannst.
- wiederkehrende negative Gedanken erkennen und verabschieden
- negativen Gedanken widersprechen
- erinnere dich: Ein Gedanke ist nur ein Gedanke
- achte darauf, womit du deine Gedanken fütterst
- manchmal hilft nur ablenken
- negative Glaubenssätze auflösen
Eine Kurzanleitung dafür findest du hier.
Schritt 7: Emotionsmanagement – Umgang mit intensiven Gefühlen
In keiner Situation ist emotionale Selbstregulation wichtiger, als in der akuten. Wenn die Realität nicht mit unserer Erwartung übereinstimmt, wir bewusst oder unbewusst Objekte oder Situationen wahrnehmen (Reize) wird eine emotionale Reaktion ausgelöst. Diese zeigt sich zunächst in Form einer Körperreaktion. Auch wenn wir das nicht wahrnehmen, es gibt sie immer. Erst nach der körperlichen Reaktion manifestiert sich die emotionale Reaktion in unserem Verhalten.
In emotional herausfordernden Situationen ist es also wichtig, dass du den Reaktionskreislauf unterbrichst. Sobald du spürst, dass eine Emotion im Anmarsch ist oder schon da ist, setze ein Stopp. Das geht am besten durch einen starken äußeren Reiz. Ich persönlich kneife mich dann sehr fest in den Arm. Das tut für einen kurzen Moment weh, aber es schmerzt nicht so sehr wie die Scham darüber, wieder einmal die Kontrolle verloren zu haben, oder die Verletzung, die wir einander verbal im Streit zugefügt haben. Auch hier gilt: Gefühle bewusst wahrnehmen und sie, im zweiten Schritt benennen. Das kannst du laut oder leise tun. Wichtig ist, wenn du z.B. wütend bist, dass du sagst oder denkst: Ich bin wütend! Allein durch die Distanz, die du zwischen dir und dem Gefühl schaffst, werden deine unbewussten emotionalen Reaktionen gebremst.
Überdies hast du die Chance, das hinter dem Gefühl liegende Bedürfnis zu erkennen. Z.B. bin ich wütend, weil du heute schon wieder Kuchen gekauft hast, obwohl ich dich gebeten habe, das nicht zu tun. Du hast meinen Wunsch nicht ernst genommen, ich fühle mich von dir nicht ernst genommen. Außerdem bin ich vor allem wütend auf mich, weil ich den Kuchen sehe und kaum an mich halten kann. Ich bin wütend, weil ich mich so verführbar fühle und es mir so schwerfällt, den Kuchen nicht zu essen. Ich nehme mich selbst nicht ernst.
Deine Gefühle weisen Dich also auf deine Bedürfnisse hin. Hast du die erkannt, findest du auch Ideen, wie du adäquat handeln kannst. Im Beispiel könntest du deinem Gegenüber erklären, warum dich der Kuchen auf dem Tisch verletzt und dass du dir wünschst, dass in der nächsten Zeit in deiner Gegenwart kein Kuchen gegessen wird. Für dich selbst kannst du entscheiden: Der Kuchen steht da jetzt zwar, aber ich verlasse lieber die Küche, es ist nur ein kleines Stück Kuchen, aber ich habe mir etwas vorgenommen und dazu stehe ich.
Wenn Du ein Gefühl klar benennst, das dahinterliegende Bedürfnis erkennst, erkennst du also auch eine klare Handlungstendenz und bleibst handlungsfähig.
Prinzipiell gilt, egal ob du allein bist oder andere bei dir sind: Alles ist besser als Zerstörung oder vom Gefühl überwältigt zu werden. Gerade negative Emotionen haben sehr viel zerstörerische Energie in sich, weil wir uns ihnen so ausgeliefert fühlen. Emotionale Selbstregulation beinhaltet auch die Erkenntnis: mit deinen Gefühlen ist prinzipiell alles ok, und jede Lösung ist gut, die dir und anderen nicht schadet.
Fazit
Emotionale Selbstregulation ist ein lebenslanges Lernfeld, aber diese einfachen und dennoch wirksamen Schritte können dir dabei helfen, das Gleichgewicht zu finden, das du benötigst. Denke daran, dass es völlig in Ordnung und manchmal sogar notwendig ist, Hilfe zu suchen, wenn du das Gefühl hast, alleine nicht weiterzukommen. Eine professionelle Unterstützung kann dir dabei helfen, diese Praktiken zu vertiefen und zu einem integralen Teil deines Lebens zu machen und somit zu einer ausgeglicheneren, gesünderen und erfüllteren Lebenswirklichkeit beizutragen. Gern unterstütze ich dich dabei. Buche dir hier einen Kennenlerntermin und wir schauen gemeinsam, ob wir zueinanderpassen und wie ich dich unterstützen kann.
Ergänzung 1: Falls es dir schwerfällt, deine Gefühle zu benennen oder sie näher zu beschreiben, verlinke ich dir hier das Emotionen-ABC von Esther Nogler. Sie schreibt: „Damit kannst du deinen emotionalen Wortschatz erweitern und dadurch ein besseres Verständnis für deine Gefühle entwickeln.“
Ergänzung 2: Vielleicht hast du schon einmal vom Kinderschutz-Rap gehört, der 2006 von Sonja Blattmann veröffentlicht wurde und in den letzten Jahren immer häufiger über Social-Media-Plattformen Verbreitung findet. Dieser Rap wurde entwickelt, um Kinder vor Gewalt und sexuellen Übergriffen zu schützen. Aus meiner Sicht, kann er ebenso gut für Erwachsene hilfreich sein, denn er beinhaltet die fünf wesentlichen Punkte, mit denen wir uns selbst schützen und unser Selbstbewusstsein stärken können.
Liebe Sylvia
Was für ein toller Beitrag. Deine Anleitung zur emotionalen Selbstregulation gibt nicht nur viel fundiertes Wissen weiter, sondern auch ganz praktische Tipps, die man gleich anwenden kann. Ich bin überzeugt, dass sie sehr gut wirken.
Vielen Dank, dass du mein Emotionen-ABC in deinem wertvollen Beitrag verlinkt hast, das freut mich sehr.
Liebe Grüsse, Esther