Vier Phasen der Krise
Es gibt diese zugleich kostbaren wie furchtbaren Situationen im Leben, da stehst du von einem Augenblick auf den anderen nackt vor dir selbst. Egal, ob du reich oder arm bist, erleuchtet oder einfach nur da, Krisen können uns alle treffen. Es sind Situationen, in denen sich von einem Augenblick auf den anderen, alles ändert: durch den Tod eines geliebten Menschen, durch Trennung, Jobverlust o. Ä.
Wenn die Krise da ist, gibt es nichts mehr zu beschönigen. Alles um dich herum scheint auseinanderzubrechen. Dennoch birgt jede einzelne der vier Phasen einer Krise eine große Chance, was dir helfen kann, destruktive Lebensmuster zu verändern und deiner Fähigkeit zur emotionalen Selbstregulation einige Schritte näherzukommen.
Vier Phasen der Krise
Jede Krise verläuft in Phasen. Dieser Beitrag beschreibt die vier wichtigsten Phasen: 1) Schock und emotionales Chaos, 2) Wut, Trauer und gekränktes Ego, 3) Reflexion/Neuorientierung und 4) Neuanfang.
Krisen sind wertvoll, wenn wir sie für unsere Entwicklung nutzen
Krisensituationen gehören zum Leben, auch wenn es nicht das ist, was wir anstreben. Sie passieren, vielleicht müssen sie sogar passieren, damit wir noch einmal die Chance erhalten, uns neu auszurichten. Vielleicht haben wir uns zu lange verbogen, vielleicht zu lange von unseren wahren Bedürfnissen abgespalten, einfach „nur“, damit wir mitspielen dürfen, damit wir dazugehören. Nach dem unbewussten Motto: Wenn ich mich schon nicht als dazugehörig empfinde, dann will ich wenigstens so tun als ob, dann will ich nicht, dass es anderen auffällt. Das heißt, wir arbeiten nicht daran, uns zu verbinden, sondern wir stecken viel von unserer kostbaren Lebensenergie in den Versuch, so zu tun, als wären wir verbunden.
Krisen sind furchtbar, weil alles auseinanderbricht. Kostbar sind sie, weil sie uns zwingen, uns zu entscheiden, wie wir mit dieser Situation umgehen werden. Welche Geschichten wirst du dir und anderen im Nachgang erzählen. Kostbar ist die Krise auch, weil es diesen einen stillen Moment in dir gibt. In diesem Moment bist nur du, dein Körper, dein Atem, deine Seele. Für diesen einen Augenblick stehen deine Gedanken still. Du spürst es mit jeder Faser deines Körpers, dass sich etwas verändert hat. In genau diesem Moment liegt die Chance. Jetzt kannst du die Entscheidung treffen, dein Lebensmuster radikal und dauerhaft zu verändern. Ohne Coaching, Therapie oder sonstige Begleitung. Einfach aus dir selbst heraus. Wichtig ist in einer Krise, die Lerneffekte der vier Phasen zur Kenntnis zu nehmen, um sie für dich nutzbar zu machen.
Am Beispiel meiner letzten Trennung werde ich ein wenig verständlicher machen, wovon ich hier schreibe.
Trennung – eine meiner Lebens-Krisen
Vor 10 Jahren wurde ich getrennt. Im ersten Moment kam die Trennung überraschend. Erst bei genauerem Hinsehen war sie gar nicht so überraschend. Ich hatte sie kommen sehen, aber ich habe mich entschieden wegzusehen, doch das wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht.
Phase 1: Schock und emotionales Chaos
Ich reagierte mit Panik, war wütend und traurig in einem und hatte das Gefühl, diesen Schmerz nicht aushalten zu können. Ich wollte tun, was ich schon so oft getan hatte. Weglaufen, nur wohin? Zum physischen Weglaufen hatte ich nicht die Mittel und psychisch Weglaufen, Abdriften in eine Depression hatte sich schon zu oft als Irrweg erwiesen. Ich suchte Schutz und Halt bei meinen Freundinnen und das war gut so. Ich sorgte dafür, dass ich in den Momenten der größten inneren Einsamkeit im Außen nicht allein war. Es dauerte ca. 3 Wochen, bis sich der Sturm der Emotionen gelegt und ich wieder in die gemeinsame Wohnung einzog, die er inzwischen verlassen hatte.
Was ich daraus gelernt habe
Auch wenn ich das Gefühl hatte, an den Panikattacken zu ersticken, ich bin nicht erstickt. Ich bin auch nicht wahnsinnig geworden, obwohl ich das Gefühl hatte, der Schmerz treibt mich in den Wahnsinn.
Phase 2: Wut, Trauer und gekränktes Ego
Mich fremd und allein fühlen, das sind Emotionen, die ich seit meiner Kindheit kannte und die in dieser Phase sehr präsent waren. Der ständige Blick auf das Handy, die Hoffnung auf eine Nachricht, ein Lebenszeichen und der innige Wunsch, all das möge doch bitte ein Versehen sein – nichts anderes spielte eine Rolle. Wir trafen uns und einfühlsam versuchte er mir die Situation aus seiner Sicht zu erklären, die Liebe zu mir hatte sich langsam aus seinem Leben geschlichen, er wollte einen anderen Weg, als den gemeinsamen. Und dann plötzlich die Erkenntnis: Er hat eine andere Frau. Eine unbändige Wut packte mich. Nicht auf mich, nicht auf ihn, sondern auf sie, die ich nicht einmal kannte. Ich versank in Selbstmitleid, Selbstabwertung, erhöhte unsere Beziehung, stilisierte ihn, verabscheute sie. (Heute kann ich sagen: zum Glück, spielte sich das alles nur in meinem Kopf ab, nach außen, zu ihm, habe ich mir nichts anmerken lassen.) All diese Emotionen und Gedanken schrieb ich auf, einiges landete in einem der vielen Tagebücher, die ich seither nicht wieder angeschaut habe, anderes landete hier auf meinem Blog (Zwischenzeit, wund, Strömungen).
Was ich daraus gelernt habe
In Zeiten des Aufruhrs werde ich kreativ. Ich arbeitete viel mit Mosaiksteinen, malte und schrieb. All die verzweifelte Energie floss durch meine Hände nach draußen. Das Tagebuch schreiben erlaubte mir, all die destruktiven Gedanken nach draußen zu bringen, ohne dass ich sie aussprechen und adressieren musste. Papier ist geduldig und Papier reagiert nicht verletzt. Indem ich aufschrieb, verhinderte ich, dass ich jemand anderen verletzte.
Phase 3: Reflexion und Neuorientierung
Während die beiden vorhergehenden Phasen verwirrend, schmerzhaft und dennoch extrem produktiv waren, stellte sich diese Phase für mich im Nachgang als die wichtigste Phase heraus. Der emotionale Sturm hatte sich ein wenig beruhigt, war immer noch heftig, aber kein Hurrikan mehr. Ich saß am Küchentisch und fühlte mich wund. Essen fiel mir immer noch schwer und auch meine Konzentration ließ mich im Stich. In diesem Moment, in dem ich auf Fotos aus unserer gemeinsamen Zeit stierte, schlich sich ein Gedanke in meinen Kopf, der so klar war, dass ich ihn endlich glaubte: Es ist vorbei! Er kommt niemals wieder.
In diesem Augenblick fühlte ich mich vollkommen nackt und schutzlos und dennoch wusste ich, so ist es. Es ist vorbei und er kommt niemals wieder. Kein Warum wurde in mir laut, kein Jammern. Ich sah in mir ganz klar einen Moment im Sommerurlaub. Es war der letzte Urlaubstag in Schottland. Wir fuhren über mit einem Schiff über Loch Lomond und während der gesamten Fahrt weinte ich, obwohl es dafür keinen offensichtlichen Grund gab. Wir waren auf dem Wasser, über uns blauer Himmel und Sonnenschein und es gab auch keinen Streit. Intuitiv hatte ich aber während dieser Bootstour verstanden, dass es mit unserer Beziehung vorbei war, auch wenn das ausgesprochene Ende noch ein paar Monate entfernt war.
Mein stiller Moment
In diesem Moment der Klarheit, am Küchentisch im November 2012, erkannte ich, dass ich die Wahl habe. Die Wahl anzunehmen, was ist oder mich im Schmerz zu verkriechen, im Schmerz zu verharren. Ich entschied mich für die Radikalkur der Annahme. Schrieb Listen, was ich gut an unserer Beziehung fand, was mir nicht gefiel. Ich legte den Fokus auf mich selbst, stellte mir die Frage, was mein Anteil am Scheitern der Beziehung war. Diese Zäsur war noch einmal sehr schmerzhaft. Kurz zusammengefasst: Ich habe nicht vertraut, ihm nicht, mir nicht. Ich habe geklammert, hatte Angst vor dem Verlust seiner Liebe, Angst, dass im Fall einer Trennung all meine Urängste hochkommen. (Heute kann ich sagen: Das sind sie und es war gut so, weil ich sie so lösen konnte.) Im Grunde habe ich unbewusst von ihm erwartet, er möge an mir heilen, was andere zerstört hatten.
Was ich daraus gelernt habe
Heute bin ich in kritischen und Krisensituationen sehr wachsam. Ich hoffe regelrecht darauf, dass sich dieser Moment der totalen Nacktheit offenbart. Das ist der Augenblick, in dem ich Ja sage. Ja, zu dem, was gerade ist. Indem ich aufhöre zu hoffen, ein:er möge kommen und mich retten. Es ist der Moment, in dem ich beginne loszulassen, in dem ich mich in den Fokus rücke. Es ist der Moment, in dem ich radikale Akzeptanz leben darf und will, weil ich weiß, es ist genau das, was mich aus dieser Situation hinausführt.
Phase 4: Neuanfang
Den Neustart wagte ich mit einer Pilgerreise und ein Jahr später heiratete ich mich selbst. Heute führe ich eine Beziehung auf Augenhöhe, sehr verbunden und trotzdem mit viel Raum für freie Entfaltung und Wachstum. Der Weg dahin war nicht immer leicht, ich durfte viele Ängste integrieren und lösen und es geht keineswegs immer nur harmonisch bei uns zu. Aber wie ich von der Natur lernen durfte: Gewitter haben etwas wunderbar Reinigendes.
Vielen Dank fürs Lesen. Mit einem „Gefällt mir“ oder einem Kommentar unterstützt du meine Arbeit.
In Verbundenheit
Liebe Anita, Danke für deine Worte. So ein wertschätzender Kommentar ist jederzeit willkommen. Ermutigt zum weitermachen.
Liebe Sylvia das ist ein sehr wertvoller Blogartikel. Sehr verständlich und interessant erklärt. Wunderbare Beispiele und Gefühle, die da entstehen.
Meine Lebenskrise (Depression) hat mich dorthin geführt, wo ich jetzt stehe.
Ich bin dankbar dafür.
Ich wünsche dir viel Freude und Erfolg bei deiner Arbeit.
Herzliche Grüße von Anita. ???????
[…] du in einer psychischen Krise das Gefühl hast, akut in Gefahr zu sein nutze bitte die Notfallnummern. Es ist gar nicht so […]