Von Science-Fiction bis Trauma-Coaching: Die Evolution meines Schreibens
Schreiben über das Schreiben. Anna Koschinski lädt ein zur Blogparade und ich folge ihrem Ruf. Weil das Schreiben mich schon so viele Jahre begleitet und ich ihm einiges zu verdanken habe. Schreibend konnte ich mich der Welt entziehen, mich selbst entdecken und mir Klarheit verschaffen. Schreiben hat über all die Jahre eine beruhigende Wirkung auf mich. Schreibend lernte ich Vertrauen in mich, in andere, ins Leben. Ich entdeckte die Schönheit der Welt der Worte, lernte, mit Worten zu spielen. Das Schreiben unterstützt mich bis heute beim Lernen, Zusammenhänge zu verstehen und Zusammenhänge zu erklären. Das alles passiert auch hier auf meinem Blog, wenn ich über Themen wie Traumasensibilität, Trauma oder Lebensglück schreibe.
Eine Frau, die schreibt, hat die Macht, sich neu zu definieren und die Narrative zu verändern, die sie umgeben. – Margaret Atwood
Wie ich davon träumte, eine Schriftstellerin zu werden
Sobald ich lesen konnte, las ich. Mein Literaturgeschmack hatte sich noch nicht gebildet, also las ich wahllos, was ich in die Hände bekam. Meine Favoriten damals waren Märchen aus allen Kontinenten, die Bücher von Jules Verne, Marco Polo, Karl May, Liselotte Welskopf-Henrich, Mark Twain, Arkadi Gaidar und Harriet Beecher Stowe. Am Ende der 4. Klasse hatte ich mich einmal komplett durch die Kinder- und Jugendbibliothek gelesen. Die Bibliothek war in der Regel nicht gut besucht und so gewährte mir die mitleidige Bibliothekarin im Alter von 10 Jahren Zutritt zur Welt der Erwachsenenliteratur. Hier entdeckte ich Stanisław Lem und „Die Sterntagebücher des Weltraumfahrers Ijon Tichy„. Ungefähr zur selben Zeit lief im Fernsehen „Der Amphibienmensch„, den ich verbotenerweise ansah. Einige der Bücher, die ich las, waren illustriert mit Bildern des Leipziger Malers Peter Sylvester. So wie diese Bilder stellte ich mir den Weltraum vor.
All das regte meine Fantasie an und weil das reale Leben einem Albtraum glich – was ich zu diesem Zeitpunkt gar nicht so hätte beschreiben können, denn der Albtraum war meine Normalität – flüchtete ich so oft es ging in andere Welten und Geschichten. Klammheimlich und unbemerkt schlich sich der Gedanke in mich, selbst eine Geschichtenschreiberin zu werden. Bei meiner Auswahl des Lesestoffes und meinem Faible für das Fremde, verwundert es sicher nicht, dass mein erster Schreibversuch eine Science-Fiction war. Die Abenteuer einer 13-jährigen, handschriftlich verfasst im Klassenzimmer auf A 5 Zetteln, wanderten von Schulbank zu Schulbank. Die Klassenkamerad:innen wollten mehr, also schrieb ich mehr. Solange, bis das Ganze aufflog und ich einen Klassenleitertadel erhielt. Der „Roman“ war vorbei, doch der Traum von einem Leben als Schriftstellerin war geboren.
Schreiben ist für Frauen kein Luxus. Es ist eine Notwendigkeit; es ist eine Überlebensstrategie. Es ist alles, was wir haben. – Audre Lorde
Schreiben als Halt und Orientierung
Ungefähr zu dieser Zeit begann ich Tagebuch und Gedichte zu schreiben. Ich war ein verschlossenes Kind und später im Jugendalter ähnelte ich eher einem sperrigen Kaktus als einer lieblichen Blüte. Die meisten Gleichaltrigen machten ob meiner Wunderlichkeiten einen Bogen um mich. Mangels echter Freundschaften vertraute ich mich diesen billigen Schulheften an. Diese lagen verstreut zwischen den richtigen Schulmaterialien, sodass ich mich nicht um ein Versteck sorgen musste. Alles schrieb ich hinein – meine Sorgen und Freuden, meinen Schmerz. Mein „Liebes Tagebuch“ war mir Gesprächspartnerin, Freundin, spendete Trost und sammelte meine Tränen. Alles Sächsische war in unserem Haus verpönt und aus dem Bedürfnis nach Abgrenzung von meiner Familie heraus, schrieb ich in den ersten Jahren im sächsischen Dialekt. Es war mir so lange eine Freude, bis es mir vor mir selbst peinlich war, diesen nicht sehr intelligent klingenden Dialekt zu verwenden. Denn intelligent war ich und das wollte ich anderen auch zeigen.
Das Tagebuchschreiben behielt ich über 40 Jahre bei, bis ich eines Tages damit aufhörte. Ich brauchte es nicht mehr. Inzwischen hatte ich „echte“ Freundschaften, Menschen, mit denen ich in einem engen Austausch stand. Ich musste meine Gedanken und Gefühle nicht mehr in den Kladden verstecken, denn ich kann heute darüber sprechen. Wohlwollende Menschen sehen mich und erhalte Antworten auf meine Fragen. Das alles konnten meine treuen Gefährten, die Tagebücher, nicht leisten. Das Schreiben gab mir Halt und Orientierung in einer Zeit, in der ich halt- und orientierungslos war. Ohne diese Möglichkeit, dem, was in mir und um mich los war, schreibend Ausdruck zu verleihen, wäre ich vermutlich verrückt geworden. Letztens habe ich zum ersten Mal in meinem Leben darüber nachgedacht, mich von meinen Tagebüchern zu trennen. Ich weiß bislang aber nicht, wie ich das würdevoll mache. Sie einfach wegzuwerfen, dafür bin ich diesen alten Heften zu dankbar.
Spielerisch dem Grauen des Traumas Worte verleihen
In den wilden Nachwendejahren versuchte ich mich als Journalistin und Fotografin. Sowohl in Projekten, für die ich bezahlt wurde, als auch in Projekten, die mir aus politischen Gründen wichtig waren. Für letztere gab es kein Geld, keinen Ruhm, aber dafür entstanden in dieser Zeit Freundschaften, die zum Teil bis heute halten. Zwei dieser Projekte waren damals für mich essenziell: „Die Andere Zeitung“ Leipzig und die „Zaunreiterin„. In beiden veröffentlichte ich zum ersten Mal Beiträge zum Thema sexualisierte Gewalt gegen Frauen. Noch versteckte ich mich, outete mich nicht als Betroffene, doch mir war es schon damals ein Anliegen, auf dieses Thema aufmerksam zu machen. Beide Projekte wurden noch in der ersten Hälfte der 90-er-Jahre eingestellt. Als alleinerziehende Mutter gab ich das unsichere journalistische Leben auf und studierte Sozialpädagogik. Ich schaffte für meine Tochter Helene und mich eine finanzielle Basis, die uns die Miete und das Leben absicherte.
Nebenbei schrieb ich. Gedichte, Kurzgeschichten und einen (←Triggerwarnung→) „Krimi“ in dem ich meine Rachegefühle ausleben konnte. Damals war ich noch so verletzt und in mir verunsichert, dass ich die direkte Konfrontation mit meiner Familie scheute. Ich brach den Kontakt ab und schützte mich so vor weiteren Verletzungen. Ich schrieb zarte, aber bitterböse „Elfchen“ und verarbeitete in Therapien, mithilfe meiner Tagebücher und all der anderen Schreibausbrüche das Trauma meiner Kindheit. Indem ich es in verschiedenen Versionen niederschrieb, auf das Papier brüllte, fließen ließ, verloren diese Dämonen der Vergangenheit nach und nach ihre Macht über mich. Ich wurde ruhiger und ausgeglichener, die Emotionen überfluteten mich immer seltener.
Ich schreibe, weil ich nicht still sein kann. Meine Stimme ist meine Waffe gegen Ungerechtigkeit. – Chimamanda Ngozi Adichie
Die (Hobby-)Autorin Sylvia
In den Jahren 2008 bis 2022 war ich aktives Mitglied der Autorinnenvereinigung e.V. (AV) und gehörte ab 2015 dem Beirat an. Gemeinsam mit der Leipziger Autorin Marion Undine Pelny gründete ich unter dem Dach der AV die Mitteldeutschen Autorinnen, ein Netzwerk für Autorinnen aus Mitteldeutschland. Dieses Netzwerk bestand aus einer Gruppe von 6 bis 10 Frauen, die sich gemeinsam in ihrem Schreibprozess mittels Textkritik unterstützten. Wir fuhren gemeinsam in Schreiburlaube – kleine Auszeiten zum Schreiben – veranstalteten Lesungen und erarbeiteten gemeinsam die Anthologie „Über kurz oder lang – unfrisierte Geschichten„. Es war eine intensive Zeit, in der ich einige meiner Texte veröffentlichte.
Im Rahmen des „Lesebrunch“ während der Leipziger Buchmesse – diese Lesung veranstalteten wir 4 Mal in der Frauenkultur Leipzig – kamen wir mit dem Publikum ins Gespräch. Die häufigste Frage, die uns gestellt wurde, war diese: „Ach, sie haben einen Hauptberuf? Dann sind sie wohl Hobby-Autorin?“ Diese Frage beschäftigte uns sehr. Ab wann ist Frau Autorin? Muss ich mehrere Bücher veröffentlichen, oder von dem Geld, welches die Veröffentlichungen / Lesungen einspielen, leben können? Wir entschieden uns selbstbewusst: „Wir sind Autorinnen, weil wir regelmäßig literarische Texte oder Sachtexte schreiben“. So halte ich es bis heute. Auch wenn ich nebenberuflich schreibe, bin ich eine Autorin. Und das, obwohl es nicht mein vordergründiges Anliegen ist, vom Schreiben leben zu können. Ich bin eine Autorin, weil ich schreibe – mit Hingabe, mit Liebe und manchmal auch voller Verzweiflung. Manche Texte veröffentliche ich, andere nicht. Ich schreibe, ergo bin ich Autorin.
Schreibend Wissen aneignen und vermitteln
Am besten lerne ich, wenn ich dabei verschiedene Sinneskanäle nutze: hören, sehen, ausprobieren, schreiben. Schreiben hilft mir, über ein Thema nachzudenken, die Informationen zu analysieren und logisch zu strukturieren. Indem ich mich mit einem Thema auseinandersetze und darüber schreibe, verbessere und vertiefe ich mein Verständnis von dem Thema, mit dem ich mich gerade beschäftige. Das Niederschreiben von Informationen hilft mir beim Einprägen. Außerdem unterstützt der Akt des Schreibens den Gedächtnisprozess, indem er die Aufnahme von Informationen ins Langzeitgedächtnis fördert. Das heißt, wenn ich über das Thema schreibe, merke ich mir die wesentlichen Aspekte besser. Da ich gern schreibe, ist Schreiben für mich die natürliche Lernmethode. Das half mir schon in der Schule, bei meinen beiden Studienabschlüssen und es hilft mir noch heute, wenn ich mir ein Thema neu erschließen will. Das heißt, ich bin eine grottige Auswendiglernerin. Ich hasse das Regelrecht, wenn ich gezwungen werde, etwas wortwörtlich wiederzugeben.
Definitionen, Vokabeln – all das kann ich mir viel besser merken, wenn ich den Zusammenhang verstanden habe, wenn ich es mir mit eigenen Worten erklären und umschreiben kann. In den 10 Jahren, in denen ich von 2002 bis 2012 als Dozentin an der HTWK Leipzig (nebenberuflich :-)) tätig war, profitierten die Student:innen von meiner Art der Vorbereitung: schriftlich. In jedem Seminar erhielten sie ein ausführliches Handout. Das halte ich bis heute so, auch wenn ich heute nur noch selten Vorträge halte. Ich bin mir sicher, sobald ich mein erstes Webinar gebe, erhalten die Teilnehmenden ein ausführliches Workbook.
Bloggen über Trauma, Träume und Alltag
Als ich 2008 mit meinem Blog startete, nutzte ich ihn als Möglichkeit zur Veröffentlichung von Gedichten, Gedanken und Rezensionen. Mein Blog war richtungslos. Hier versammelte sich querbeet, was mir in den Sinn kam und ich einer Veröffentlichung für würdig befand. Sprüche aus dem Pausenraum fand ich ebenso spannend wie Texte und Zitate von anderen. Ich wusste, das, was ich da tat, nennt sich bloggen. Doch die eigentliche Bedeutung des Bloggens und die Möglichkeiten, die sich mir dadurch erschließen, verstand ich erst in den vergangenen 4 Jahren. Seit 2020 bin ich viel aktiver und seit ich Judith Peters Angebote in Form von Challenges wie dem Jahresrückblog kennenlernte, verändert sich mein Blog. Obwohl ich noch immer viele persönliche Inhalte teile – die Rückblicke, die Reflexionen, Meinungen – hat mein Blog Form angenommen. Er hat jetzt eine Aufgabe: Mich als Fachfrau in Fragen Trauma und Familie bekannt zu machen.
Judith Peters nennt die Art, in der ich blogge, „dynamisches Bloggen„.
Das bedeutet, auch wenn mir mein Blog dabei hilft, mich als „Expertin“ für Trauma und traumasensibles Coaching zu präsentieren, wähle ich die Themen, über die ich schreibe, nach Kriterien aus. Ob ich:
- Lust auf dieses Thema habe,
- Freude empfinde, darüber zu schreiben,
- ich dabei etwas lernen kann.
Durch meine Rückblicke, Reflexionen und persönliche Beiträge mache ich mich sichtbar, nahbar. Ich zeige mich als Person hinter der Expertin und damit erfülle ich mir einen Traum. Als ich Anfang der 90-er-Jahre die Folgen meiner Kindheitstraumata aufarbeitete, begegneten mir Berater:innen und Therapeut:innen als Expert:innen. Heißt, ich hatte kein Gegenüber, da war keine Augenhöhe. So eine Therapeutin will ich nicht sein. Traumasensibilität erfordert Nahbarkeit. Das biete ich (nicht nur) über meinen Blog.
Wenn eine Frau ihre Geschichte erzählt, verändert sie die Welt. Jedes Mal, wenn sie schreibt, kämpft sie gegen das Schweigen. – Maya Angelou
Aufstehen und in Würde strahlen!
Du möchtest meinen Blog unterstützen?Das hat dir gefallen?
Mit einem Kommentar, einer Weiterleitung oder Verlinkung
unterstützt du meine Arbeit und meinen Blog.
Ich danke dir dafür!
Liebe Gabi, danke für deine Worte. Die lesen sich wie der Anfang eines Schreibmanifests :-). Wir lesen uns! LG Sylvia
Liebe Sylvia,
wir haben beide innerhalb von wenigen Tagen unser Schreiben beschrieben, wir ausführlich, persönlich und sinnsuch- und stiftend du das getan hast!
Ich danke dir für deinen offenen Einblick in deine Geschichte und bitte, bitte wirf deine Tagebücher nicht weg!
Du würdest das eines Tages betreuen, denn sie gehören zu dir wie jedes Jahr deines Lebens…:-)
Ich freue mich, in dir eine Schreibverwandte zu erkennen, denn natürlich sind wir Autorinnen, weil wir schreiben und veröffentlichen!
Egal, ob neben- oder hauptberuflich, das hat damit überhaupt nichts zu tun.
Ein Hobby ist durchaus ernstgemeintes Unterfangen, keinesfalls nebensächlich 🙂
Weiter so und wir lesen uns!
Gruß Gabi